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Alt und gut

Sprachgymnastin im Dienst der Asylbehörde

Das Buch ist 2011 in Paris und vor sieben Jahren auf deutsch erschienen, in der edition Nautilus, wo schon lange bevor es Mode wurde, Stimmen von weither und von jenseits der literarischen Hauptstraßen nach Deutschland transportiert wurden. Ich habe es zufällig in der Bibliothek gefunden und es ist das Ehrlichste von vielen Büchern, die ich über Geflüchtete, über Asylbewerber und die einsamen fremden Männer gelesen habe, die eingeklemmt in bürokratische Verfahren auf ein Bleiberecht hoffen.

Die Erzählerin ist – wie die Autorin – Übersetzerin, sie kennt die Schicksale und die Geschichten, die oft im Paket zusammen mit der Überfahrt von Schleusern gekauft wurden. In der Story sitzt sie im Gefängnis, weil sie in der Metro einen Mann mit einer Flasche verletzt hat, nun soll sie einem “Herrn K.” erklären, wie es dazu kam. In einer Zelle sitzend rekapituliert sie ihre Begegnungen, denkt über ihre und die Situation der Beteiligten nach: das sind die vielen Antragsteller, aber auch Richter, Anwälte, ihre Kollegen, die aus anderen Sprachen übersetzen und die blonde Frau, die mit ihrer Hilfe herausfinden soll, ob der Bewerber als Asylant anerkannt werden kann. Manchmal gibt es ein stilles Einverständnis mit der Beamtin, manchmal versucht sie, Notausgänge für die Männer zu finden, denn es sind vorwiegend Männer, und die sind nicht gewohnt, dass eine Frau über ihr Schicksal entscheidet. Sie nennt sich selbst den “Bindestrich” zwischen jenen Beamtinnen, die über das Schicksal der Antragsteller entscheiden sollen und “Männern von meinem ehemaligen Subkontinent”.

Das Amt befindet sich in einer grauen, gesichtslosen Vorstadt, und auch die beschreibt sie so eindringlich, dass auch der Leserin kalt wird. Als Dolmetscherin hat sie so viele Geschichte gehört, dass ihr Kopf zu einem “Geiernest” wird. “Mit Tränen in den Augen höre ich ihren Berichten zu. Tränen der Verzweiflung und der Scham. Bei ihren Lügen werde ich rot.” Sowohl sie wie die Beamtin wissen, dass viele der Geschichten erfunden sind, sie leidet mit, wenn sich die Männer verhaspeln, sich in Widersprüche verstricken oder in Tränen ausbrechen. Da sie auch für den medizinischen Dienst als Übersetzerin arbeitet, berichtet sie von der Hilflosigkeit des Arztes, der ein Attest schreiben soll. Sie kennt die Skrupel und erkennt das Mitgefühl derer, die über das Schicksal der Armen entscheiden, sie kennt die Märchen aus sandigen Ländern und versteht die Gründe der Flucht und die Sehnsucht nach Freiheit.

Die Erzählerin (denn das Genre heißt Roman) will verstehen, wie diese Männer im Land ihres Exils überleben, sie sucht die Verstecke auf, in denen die Geflüchteten “sich in den verborgenen Falten dieser Stadt festgesetzt haben und die mit den letzten Kröten der Sozialhilfe angemietet werden”. Sie hört den anderen Dolmetschern zu, die in dem schäbigen Aufenthaltsraum “schlaff wie welker Salat” auf ihren Einsatz warten. Manche sind gleichgültig, andere haben ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Geld mit diesen armen unglücklichen Leuten verdienen.

Es sind nur 127 Seiten, die eine große weite Welt eröffnen. Shimona Sinha erzählt keineswegs nur von Elend, sie malt und träumt und hat viele Fragen, nicht so sehr an das System, das eher schicksalsergeben beschrieben wird, eher an sich. Sie fragt sich mehr an sich als an das System, die sie an sich stellt  In ihrer Zelle fragt sie sich, wer sie ist, eine Überläuferin, eine Verräterin. Das Buch ist so ehrlich, realistisch und intim – sowohl ihren seelischen Zustand wie den Zustand der Behörde betreffend – dass Shimona Sinha nach Erscheinen des Romans ihre Stelle verlor. Und es ist hervorragend übersetzt.

Shumona Sinha. Erschlagt die Armen. Aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller. Edition Nautilus, 127 Seiten