Auch das war ne Zeitenwende
Der Wind hat sich gewendet und nein, ich habe keine Lust, über „68“ zu schreiben, als uns der Wind in den Rücken blies – oder wir ihn machten. Aber ein paar Farbtupfer kann ich bieten. Ich bin zum Wintersemester 1965 nach Berlin gekommen, gerade rechtzeitig. Im Herbst dieses Jahres fand die erste Veranstaltung zum Thema Vietnamkrieg statt. Selbstverständlich habe ich mich für die Proteste interessiert, hab mitdemonstriert, war bei Sit-Ins und Teach-Ins, Ad-hoc-Gruppen in der Roten Zelle Germanistik, bei der Kritischen Universität und im Republikanischen Club, bei den Protesten gegen die Springer-Presse und den Demos gegen die Notstandsgesetze, auch beim sogenannten Tomatenkongress und im Weiber-Rat. Warum ich über „68“ nicht schreiben will, ist doch klar. Es gibt Hunderte Bücher und Dokumente über diese Zeit, mit und ohne Heldengeschichten. Bei der Lektüre solcher Berichte dachte ich oft, ich hätte in einer anderen Zeit gelebt und bei einer anderen Studentenbewegung mitgemacht. Meine Motive waren anders als bei vielen der Kommilitonen, ich hatte keine Nazi-Eltern oder –Onkel, das Thema Schuldgefühle spielte in meinem Kreis keine Rolle. Wenn ich heute zu einer Demo gehe, wundere ich mich, wie wenig Leute ich kenne. Damals kannte man einander, auch neue Gesichter waren nicht fremd. Wichtig und eine aus heutiger Sicht erstaunliche Gemeinsamkeit war die Energie, mit der die vielen geltenden Regeln sowohl im Alltag wie in der Wissenschaft „infragegestellt“ wurden. Alles wurde infragegestellt, Autoritäten, moralische Gebote, Ideen über Liebe und Sex und Ordnung und Gewalt. Mir gefiel der Spott und die Lust und dieses Ausprobieren, das hatte es unter den Kommunisten nicht gegeben. Antiautoritär – das war‘s! Aus anderen Gründen als meine deutschen oder auch teutschen Kommilitonen waren Spiele, Experimente und Grenzüberschreitungen auch für mich lustvoll befreiend. Beim antiautoritären Fußball vor dem Reichstag gelang mir manch guter Schuss, weil ich die Regeln nicht kannte. Der Verstoß gegen Normen war ein Fest, die Macht der Phantasie wehte von Frankreich, der Dadaismus aus Schwabing, neuartige Musik aus England und den USA herüber in das ordentliche, hierarchische, noch von der Nazierziehung geprägte Westberlin. Mein Vater war entsetzt, als ich bloßfüßig durch Salzburg lief, er verstand trotz seiner rebellischen Jugend nicht, was das soll. Wir haben Peter Weiss „Ermittlung“ und Hochhuths „Stellvertreter“ diskutiert, haben aber nicht über die konkrete Geschichte der Eltern der Studienfreunde gesprochen. Auch nicht über die meiner Eltern. „Wir“ waren gegen die große Koalition und ihre Ex-Nazi-Repräsentanten wie Kurt-Georg Kiesinger, diskutierten und informierten Mitstudenten oder unwillige Zuhörer über „schreckliche Juristen“ wie Hans Filbinger, und machten uns über den Bundespräsidenten Heinrich Lübke lustig, der vor allem durch Witze über seine dummen Sprüche in Erinnerung geblieben ist. Fünfzig Jahre später hat ein Freund aus diesen Zeiten behauptet, ich hätte immer versucht, sie zu Demos zu animieren. Eben dieser Freund hatte mich einmal zu seinen Eltern mitgenommen. Sie wohnten nahe Bonn in einem schönen Haus, haben interessiert nach meinen Ansichten gefragt, ich habe sie nicht gefragt, was sie in den frühen 1940er Jahren, als der Sohn in Berlin zur Welt kam, gemacht haben. Ich kam gar nicht auf die Idee, sie nach ihrer Vergangenheit oder ihrem Leben in der Nazi-Zeit zu fragen. Dummheit? Feigheit? Höflichkeit … oder hatte ich eine Scheu gegenüber diesen freundlichen Menschen in ihrem gepflegten gutbürgerlichen Heim? Viel Zeit habe ich mit Ingrid, einer Engländerin verbracht, am Rand des SDS gab es einen Tschechen, einen Ungarn und einen Jugoslawen, wir gingen zusammen Joggen und nannten uns kakanische Fraktion. Es gab diese Clique, vorwiegend Germanisten (und Germanistinnen), wir sollten Althochdeutsch lernen, hörten aber im Zuge der Ereignisse bald damit auf, weil die Diskussionen rund um den Mensatisch wichtiger wurden. Zum Freundeskreis gehörten Genossen aus Griechenland, Spanien oder Lateinamerika, die vor Diktaturen geflohen waren, und erstaunlich gut deutsch sprachen – vermutlich Red-Diaper-Babies. Zur Clique gehörte der Germanistik studierende Palästinenser, die dichtende Türkin, Schwule, die noch Angst vor Entdeckung haben mussten. Die Verständigung mit Ausländern war manchmal leichter als die mit radikalen oder nur dogmatischen deutschen Linken, und es war es leichter, miteinander zu lachen. Noch vor und neben der Politik beschäftigten uns moralische oder auch unmoralische Gebräuche von Hierarchien bis Minirock, Sex & Rock ´n Roll. Meine Freundin Olga animierte mich, „weiblicher“ zu werden, die schwarzen Locken nicht streng wegzubürsten, bunte Kleider zu tragen, und mein Judentum nicht zu verstecken. Ich habe agitiert, bin aber auch in wallenden Gewändern herumgelaufen und habe allerlei Blödsinn zwecks sexueller Befreiung und Erweiterung des Bewusstseins mitgemacht. Gerne denke ich an jene Wohnung in Moabit, die ich mit einem Lover teilte, der sanft und psychologisierend die Menschen von innen verändern wollte. Sie war einer der raren Orte im damaligen Westberlin, wo Hippies und Marxisten sich begegneten, miteinander sprachen, einander sogar zuhörten oder gar poussierten. Die damals im Westen noch selten gedruckte Exil-Literatur holte ich mir in Ostberlin. Als Österreicherin konnte ich leicht „rüber“ und besuchte die Freundin meiner Mutter, die am Deutschen Theater arbeitete. Dazu fuhr ich mit der von ordentlichen Berlinern gemiedenen S-Bahn (sie war im Besitz der DDR) zur Friedrichstraße. Der österreichische Pass war auch ein Grund, mich – getreu dem Rat meines Vaters „pass auf, dass Du nicht erwischt wirst“ – am Rand zu halten. Österreich war noch nicht in der EU, die Aufenthaltsgenehmigung begrenzt und widerrufbar (ein Grund, weshalb ich noch 1971 den Aufruf von Alice Schwarzer „Ich habe abgetrieben“ nicht unterschrieben habe). Wenn ich die Aufenthaltsgenehmigung (in dem Nazi-Gebäude am Tempelhofer Flughafen) erneuern musste, stand ich in einer langen Schlange mit Türken und anderen „Fremden“. Als ich endlich an der Reihe war, meinte der Beamte: „Warum haben sie nicht gleich gesagt, dass sie zu uns gehören.“ Das hat mich erschreckt und geärgert, auch wenn es die Wartezeit verkürzt hätte, wollte ich nicht zu ihnen gehören. Der Pass, die kommunistische und die jüdische Herkunft schützten mich mehrfach vor dem Dazugehören. Am Rand sieht man mehr. Wir haben Arbeitskreise gegründet und viel gelesen, manchmal nutzte ich meine Herkunft: Als ein oberkluger SDS-Macho einen Vortrag hielt (vor Frauen, die ihm zu Füßen lagen), warf ich ein, „Lenin hat auch gesagt …“ und erfand irgendwas, denn den Duktus beherrschte ich. Schifahren galt als reaktionär, ich bin trotzdem in die Berge gefahren und erfuhr von den Schüssen auf Rudi Dutschke durch eine Schlagzeile, während ich am Schilift wartete. Ich habe den Urlaub nicht abgebrochen. Auch weil ich oft in Wien war, verband (und verbindet) sich „68“ ab August vor allem mit Prag, mit Panzerkommunismus, mit dem Einmarsch der „befreundeten Truppen“ in die Tschechoslowakei, und das Ende aller Illusionen über den realen Sozialismus. Bereits im Herbst 1968 schlug die Stimmung um. Parteien wurden gegründet, Junge Männer, die zuvor bei Walter Höllerer im Seminar saßen, weil sie Dichter werden wollten (es gab noch keine Creative Writing-Kurse), verteilten in aller Früh Flugblätter vor Fabriken, Disziplin war wieder eine Tugend, antiautoritärer Fußball fand nicht mehr statt. Der Satz „Das mit den Juden haben wir abgehakt“ ruht auch noch in meinem Gedächtnis, der Freund, mit dem ich einst – als demonstrative Mutprobe – händchenhaltend ins Seminar gegangen bin, war inzwischen Sozialist, und im Sozialismus gibt es bekanntlich keine rassischen oder nationalen Unterschiede. Ein anderer Satz, der die Verhältnisse zur Deutlichkeit brachte: „Wenn ich so eine Geschichte hätte wie Du, würde ich jetzt nicht meckernd im Hintergrund, sondern oben auf der Bühne stehen.“ Bis heute kann ich nicht rekonstruieren, warum ich – alleine, in einem Volkswagen mit deutschem Kennzeichen – 1967 nach Polen, einschließlich Auschwitz, gefahren bin. Unterwegs wurden Steine auf mein Auto geworfen. Ein zweiter Besuch, der mit polnischen Freunden meiner Eltern für das folgende Jahr verabredet war, kam nicht zustande. 1968 gab es in Polen heftige antisemitische Verfolgungen, die Familie ist ausgewandert. Israel war für die Linken auch damals imperialistisch, der Protest vom 2. Juni 1967 nach dem Schahbesuch und der Tötung von Benno Ohnesorg fiel bald mit dem Sechstagekrieg zusammen. Meine zu gute Kenntnis über den Nahen Osten war einigen Linken verdächtig. Es half auch nicht, dass ich meine Artikel unter Pseudonym schrieb, nicht aus Scham, sondern um mir die verkorksten mehr und weniger anti- und philosemitischen Erklärungen nicht anhören zu müssen. Axel Springer feierte in seinen Zeitungen den „Blitzkrieg“ Israels. War es der 3. oder der 4. Juni 67, Hörsaal an der FU, wir wollten mit unseren Lehrern über die Gewaltorgie der Polizei beim Schah-Besuch sprechen. „Unsere“ Professoren, meist ältere Herren, von denen, wie man heute weiß, einige in der NSDAP gewesen waren, erklärten sich für unzuständig, sie wollten nichts mit Politik zu tun haben, sondern „nur der Wahrheit dienen“. Mir kam gar nicht in den Sinn, dass mein Name eine Rolle spielen könnte, als ich sagte, ich hätte, als die Polizei auf uns losstürmte, Angst gehabt, der Faschismus sei wieder ausgebrochen. Bei der Erinnerung an den 2. Juni 67 denke ich nicht nur an die Prügel, die ich – am Boden liegend – von der Polizei bezog, ich denke an die Aggression der Berliner Bevölkerung gegen die Studenten, die, angetan mit Trauerbinden nach dem Tod von Benno Ohnesorg, erkennbar waren. Wir wollten diskutieren und erklären, und dabei konnte es passieren, dass jemand in der U-Bahn versuchte, so einen langhaarigen Studenten aufs Gleis zu schubsen. Beim Rückblick erinnere ich mich an Empörung und Kopfschütteln, als Jürgen Habermas bei dem Begräbnis von Benno Ohnesorg in Hannover (mit Protestfahrt durch die DDR, wo wir ohne die sonstigen Kontrollen durchgelassen wurden) vor einem „linken Faschismus“ warnte. Spätestens die Bombe vor dem Jüdischen Gemeindehaus erforderte ein Bekenntnis, auch wenn man nicht zionistisch war. Die revolutionär sein wollende Tat des einstigen Spaßmachers (Dieter Kunzelmann) geschah im Herbst 1969, da hatte ich, verzweifelt und ratlos, Berlin (vorübergehend) verlassen. Auch wenn sich über vieles streiten lässt, so haben wir gewiss Sitten, Gebräuche und Einstellungen verändert. Und ja, auch das Verhältnis zur Nazizeit, zu Juden und dem damals noch „Niederlage“ genannten Kriegsende haben sich verändert – wenngleich auch erst, als die meisten Unterstützer des tausendjährigen Reichs verstorben, zumindest nicht mehr im Amt waren. Redend, schreibend und streitend habe ich zur Verbreitung der gewonnenen An- und Einsichten beigetragen, Einiges war vielleicht naiv, Anderes umstürzend. Kritik, Umdenken, Fragen, Lektüre und Illusionen haben das Denken und auch Institutionen verändert. Was damals noch Irrenhaus hieß und wie es in den so genannten Erziehungsheimen zuging, kann man sich selbst in konservativen Kreisen heute nicht mehr vorstellen. Mit guter Absicht und wenig Kenntnis habe ich versagt, als ich ein junges Mädchen aus der „Fürsorge“ aufnahm. Ich schäme mich noch immer, wenn ich an meine Ratschläge von damals denke, von Missbrauch und Vergewaltigung hatte ich keine Ahnung. Wenn ich heute halbnackte Männer in Jogginghosen oder junge Frauen im durchsichtigen Unterhemd sehe, weiß ich wieder, dass – wie oft in der Geschichte – gut gemeinte Ideen mutieren, Revolutionen nicht das hervorbringen, was ihre Befürworter (ich scheue in dem Zusammenhang das Wort Kämpfer) beabsichtigt hatten. Für Nachgeborene festhalten will ich eine dialektische Volte. Als Nebenwirkung des Berufsverbots von 1972, die Linke, vor allem solche, die irgendetwas mit „Kommunismus“ zu tun hatten, vom Staatsdienst ausschließen sollten, entstand eine neue (mehr und weniger bürgerliche) Öffentlichkeit: Kleinverlage, Off-Bühnen, Zeitschriften und nicht zu vergessen die Kinderläden. Auf diesem Humus gedieh mein Interesse an Ambivalenzen, die Beschäftigung mit Umbrüchen, und die Freude an der Unzugehörigkeit.