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DDR-räsonement

Allmähliche Umgewöhnung

Materialien für eine vergleichende Umbruchsmentalitätsgeschichte

Umbrüche bewirken manchmal, nicht immer, einen Wandel der Mentalitäten. Zwischen 1918 und 1934 wurde an vielen Orten, in Publikationen, auf den Bühnen von Theater und Kabaretts, in Büchern und Zeitschriften über eine nicht mehr monarchische sondern demokratische Politik, über neue Orientierungen und Verhaltensweisen diskutiert, gewitzelt und geschrieben; nach 1945 – nicht unbedingt im deutschen/österreichischen Alltag, aber in den von den Alliierten gegründeten und überwachten Zeitschriften – über die notwendige Umgewöhnung geschrieben und vorgetragen. Nach 1989 wurde weitgehend ignoriert, dass die Menschen in der DDR andere Geschmäcker und Gewohnheiten hatten, andere Lieder gesungen und Lebensziele erlernt hatten. Eine offene Debatte wurde von den meist aus dem Westen zugezogenen Politikern, Journalisten, Professoren, Beamten etc. nicht für nötig gehalten. Die „Ossis“ waren ja „deutsch“ wie „wir“ und mussten sich doch freuen, endlich zum freien Westen zu gehören. Nun mehren sich die Bücher und Artikel, die – langsam – eine Änderung bewirken könnten.

Da ich gerne mehrere Bücher parallel lese, hüpfen meine Gedanken manchmal zwischen Zeiten und Themen hin und her, auf und ab. Derzeit unter anderem zwischen dem Ende des 1. Weltkriegs (Norbert C. Wolf, “Revolution in Wien 1918/19”), 1946 f. in Nürnberg (“Das Schloss der Schriftsteller” von Uwe Neumahr) und der Zerstörung der Demokratie unter Dollfuß – nicht erst mit Hitler (Die Zerstörung der Demokratie, Hrsg. von Wien-Bibliothek und Wien-Museum).

All diese Bücher beschäftigen sich mit Umbrüchen, bei denen erlernte Gewohnheiten, jahre- (oder wie im Fall der Habsburgermonarchie jahrhunderte-) lang gepflegte Traditionen, Ansichten und Rituale wertlos wurden. Es waren “Zeitenwenden” voller Hoffnungen und Enttäuschungen. Mein gedanklicher Fluchtpunkt beim Hüpfen zwischen Zeiten und Themen ist das, was die einen Wiedervereinigung, andere Anschluss, die einen Wende, andere Kolonialismus nennen: Die sogenannte Wiedervereinigung d Auch im Kulturbetrieb wird ja jeden Monat eine neue Sau durchs Dorf getrieben, derzeit sind Bücher und Artikel über die DDR in Mode. Nach vielen Berichten über Stasi, Kontrolle und Leid in der Diktatur liest man inzwischen auch schöne und beschönigende Erinnerungen an manches, das es im “kalten Kapitalismus” nicht gibt: Solidarität. Billige Wohnungen (sofern vorhanden). Gemeinschaften, die erzwungen, aber wärmend waren. Autos, Uhren, schöne Frauen und erfolgreiche Männer sind in der neuen Wirklichkeit nicht so attraktiv, wie sie im West-Fernsehen erschienen, oder sie sind zu teuer.

1918 und 1946 sind Hierarchien, Uniformen und klare Gebote verloren gegangen. Jetzt gebären die vielen Krisen und fehlenden Wegweiser überall Rattenfänger. Italien, Frankreich, Ungarn, Polen, sogar skandinavische Länder und Israel (Österreich sowieso) erscheinen derzeit stärker durch Rechtsradikale gefährdet als Deutschland, der Weltmeister in Vergangenheitsbewältigung. Aber täglich mehren sich die Erfolge der AfD im Osten, obwohl die Elite dieser Partei vornehmlich aus dem Westen kommt.

Alle rechtsradikalen Gruppierungen sind beängstigend, aber Nazis, rechtsextreme Chat-Gruppen innerhalb der (nordrhein-westfälischen) Polizei, um sich schießende “Einzeltäter” und rassistische Überfälle sind in Deutschland besonders beängstigend.

In dem Buch über Wien 1918 wird von der kraftvollen Symbolik berichtet, als Soldaten die kaiserlichen Kokarden von der Uniform der Offiziere rissen. In der Szene, die der Autor von Manès Sperber geborgt hat, ist der gerade noch allmächtige Hauptmann plötzlich machtlos, nicht nur seiner Insignien, sondern auch seines Selbstverständnisses (heute würde man von Identität sprechen) beraubt, während der einfache Soldat, statt gebeugt sein Gepäck zu schleppen, erhobenen Hauptes den Dienst verweigert. Mich erinnert diese Nacherzählung an einen VoPo (für Fremde: Volkspolizist der DDR) in Berlin auf der Straße Unter den Linden. Im Oktober 1989 noch aufrecht, stolz, im Völlegefühl seiner Autorität hing er zwei Wochen später zusammengesunken in seiner grauen Uniform. Ein anderer warf, immer noch in der grauen Uniform, lachend seine Mütze in die Luft.

1918 war der Wechsel von der Donaumonarchie zur Demokratie in Österreich nicht nur mit Staatsschulden und dem Verlust industrieller und landwirtschaftlicher Gebiete verbunden. “Eine gewaltige Hypothek bestand für den mit der Niederlage assoziierten demokratischen Staat darin, dass er sich mit den alten Machteliten arrangieren und den Kompromiss mit Bürokratie, Justiz und Armee suchen musste.” Das Buch erzählt aber auch von Organisationen, politischen, kulturellen und sportlichen Initiativen, die bei der Jugend, bei Arbeitern, bei Teilen der unteren Mittelschicht und nicht zuletzt wählendürfende  Frauen das Hineinwachsen in die “Neue Zeit” ermöglichten. Wandernd, singend, Kaffee trinkend und bei Versammlungen haben sich Mentalitäten geformt, die über das monarchische Erbe hinauswiesen. Es wurde kommuniziert, gestritten, gesponnen und Zukunft entworfen. Die vielfältige lebendige Kultur der 1920er Jahre konnte das Erstarken faschistischer Bewegungen nicht verhindern, aber 40 Jahre später wurde daran angeknüpft.

Als nach dem 2. Weltkrieg hochrangige Schriftsteller – aus dem Exil zurückkommend, in der Uniform der Alliierten oder als zivile Journalisten – 1946 durch das zerstörte Deutschland fuhren, erschienen vielen die Deutschen als hoffnungsloser Fall, ein unbelehrbares Volk, das vor allem sich selbst leid tat. Die Alliierten sorgten damals dafür, dass Lizenzen für Zeitungen und Rundfunk nur an (mehr und weniger) saubere Anwärter vergeben wurden. Was an Stammtischen und in stillen Netzwerken von den alten Ideen gefeiert wurde, war erst nach den berühmten vierzig Jahren (die Moses durch die Wüste gegangen ist) unerwünscht, als die Nazis in Rente gegangen oder gestorben waren. Im Gefolge der Gegenkultur aus den 60er Jahren konnte der deutsche Bundespräsident bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa den 8. Mai zum Tag der Befreiung umdefinieren. Langsam, sehr langsam verlor die eingeübte Moral ihr Gewicht, Deutschland wurde zum vielzitierten Vorbild der Umlernmöglichkeit. Österreich etwas weniger.

Es stimmt leider, dass die Demokratien in ihrem gegenwärtigen Zustand viele Probleme nicht lösen (können), dazu kommen die rasenden asozialen Medien mit ihren populistischen Parolen und Versprechungen. In Erklärungen für den Erfolg der AfD heißt es oft, die Ossis hätten eben nicht gelernt, was Demokratie ist. Meine Psychologen-Freundin ergänzt, dass viele von denen, die damals nicht den Mund aufgemacht haben, nun ihren angestauten Frust ungestraft rauslassen können. Die heute 30-40-Jährigen, die ja keine DDR mehr erlebt haben, seien, sagte neulich Jens Reich (Mediziner und ehemals Oppositioneller in der DDR), noch von Erzählungen der Eltern geprägt – Erzählungen über verlorene Jobs, über die Missgriffe der Treuhand, den Import von (oft drittklassigen) Wessis in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, über Konzerne, die Betriebe platt machten und über gewöhnliche Betrüger. Diejenigen, die Reformen wollten, hatten zu wenig Zeit, um eine eigene demokratische Entwicklung oder neue Wege für eine unabhängige DDR zu erproben. Sie hatten auch keine Gönner und kein Kapital, um die marode Wirtschaft zu retten. Schnell kam die erste und letzte freie Wahl in der DDR, die ein Freund damals Unzucht mit Unmündigen nannte. Das Volk drängte zu den blühenden Landschaften. Die „Allianz für Deutschland“ trat für einen schnellen Weg zur deutschen  Wiedervereinigung ein und gewann. Im kalten November wurden den freigelassenen Bürgern DM 100,- ausgezahlt, ein  Glücksversprechen, für das sie frierend vor den Banken Schlange standen. Für Sentimentalitäten wie Selbstbestimmung, Würde oder auch Demütigung hatten Helmut Kohl und seine PR-Manager keine Zeit. In Wien sind Ungarn und Tschechen hoch erhobenen Hauptes windowshoppend über die Mariahilfer Strasse geschlendert, sie hatten allerdings kein Westgeld, um sich schöne Dinge zu kaufen.

Ich weiß nicht, ob sich Emotionsgeschichte um enttäuschte Hoffnungen, den gebückten oder aufrechten Gang kümmert. Neben allerlei faktenreichen Büchern lese ich Romane und Biographien, die ja oft vom Leben ohne Geländer in unübersichtlichen Zeiten handeln. Sie trösten nicht, aber schärfen den Möglichkeitssinn. Es sind erst 34 Jahre seit dem Fall der Mauer vergangen (das Loch, das ein halbes Jahr davor mit viel Sinn für dramatische Symbolik  an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn von den Außenministern dieser beiden Länder in den Eisernen Vorhang geschnitten wurde, wird kaum je erwähnt). Bücher lesend, Radio hörend und in Gesprächen mit Freunden will es mir an guten Tagen scheinen, als würde eine Diskussion beginnen, die nicht nur von offiziellem Politsprech mit abgedroschenen Phrasen zur “Feier einer friedlichen Revolution” bestimmt ist. Neben den Anti-Demokraten wuseln junge und nicht mehr junge Autoren durch die Medien, die sich mit Alternativen zu den Alternativen beschäftigen, Einzelne und Gruppen, die sich offenkundig aus den vorgekauten Mustern, ob westlicher oder östlicher Provenienz, gelöst haben. Bei Festen und Demos, Theaterspielen, Konzerten und Gesprächen wachsen elektronische und analoge Netzwerke, Bausteine für eine Gegenkultur. Es bleiben ja noch sechs Jahre, bis die Vierzig voll sind.