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Ein Text von 1991, leider nicht veraltet

Die Stadttore lassen sich nicht mehr schließen 

Landflucht, Ethnizität, Heimat und Wurzelsuche.

Die Welt ist kleiner geworden, viel kleiner. Kleiner, als die seinerzeit doch relativ große k.u.k. Monarchie, die Serben, Galiziern, Tschechen und Bosniern, Ungarn oder Nähren die Zuwanderung nach Österreich zu “Ihrem Kaiser” leichter machte als Berlin die Niederlassung eines Dessauer. Das Tempo, die schnellen Verkehrsmittel und der Informationsfluß lassen das Europa von heute etwa mit, sagen wir, Wien, Niederösterreich,Oberösterreich und der Steiermark vergleichen; die Monarchie mit ihren fremd gekleideten, in unverständlichen Sprachen kommunizierenden Völkern aber war quasi so groß wie heute die ganze Welt.

Die Reise von Przemysl nach Klosterneuburg dauerte nicht nur länger, sie war auch umständlicher und beschwerlicher, als es der Flug von Harare nach London heute ist. Das hing seinerzeit wie heute allerdings davon ab, wer unter welchen Umständen gereist ist, ob als Flüchtling, Tourist, Diplomat, als angeheuerter oder illegaler Arbeiter, der auf gut Glück losfuhr oder schon Nachricht von Verwandten hatte, die ihn erst einmal unterzubringen versprachen.

Der Vergleich mit der Landflucht zu Zeiten der Wende von 18. zum 19. Und von 19. Zum 20. Jahrhundert gefällt mir besser als der Begriff Völkerwanderung, der auf unendlich ferne Zeiten anspielt und primär das Fremde, Menschenschlachten und Eroberung mitschwingen läßt. Auch die Rede von Minderheiten klingt, als gäbe es im Gegensatz zu ihnen eine einheitliche Mehrheit, die immer schon mit ihrer Sprache und Kultur in einem nationalen Staat zu Hause war.

Nehmen wir Salzburg. Nicht Mozart, der sich in einer relativ einheitlichen Hochkultur gut zurecht finden konnte, sondern eines der vielen Kinder aus den rechtlosen unterbäuerlichen Schichten, die in die Residenzen flohen. Kriege, Mißernten, Seuchen, Überschwemmungen, Teuerungen und Wucher haben die Menschen in die Städte getrieben. Ländliche Bevölkerung, die sich nicht ernähren konnte, Handwerker ohne Berufs-auskommen, entlassene Soldaten, verwahrloste Jugendliche, verarmte Studenten verließen auf der Suche nach Arbeit und Almosen ihre Heimat.

Sie wurden als Bettler mit Strang und Staupenschlag bestraft oder von Milizen in ihre Heimatgemeinden zurückgebracht, denn jedes Dorf war für seine Armen, aber nur für “seine”, verantwortlich. Die Städte suchten sich zu schützen. An der Torwache mußten Passier- und Logierzettel ausgefüllt werden, Meldepflicht und Aufenthaltsscheine wurden eingeführt, um die Fremden fern zu halten. Wer Arbeitsstelle und Quartier nicht nachzuweisen vermochte, wurde, je nah Landesbrauch, in eiserne Ketten gelegt, auf die Galeere geschickt, als Soldat oder Siedler für die Kolonien verkauft.

Der Fortschritt im Zeitalter der Aufklärung bestand darin, daß sie in Armen- und Zuchthäuser eingewiesen wurden, um für billigen Lohn das Manufakturwesen und später die Industrie emporzubringen. Um die Gefühle und Ängste vor den Fremden auf heutige Verhältnisse zu übersetzen, müssen nicht einmal die Leibeigenen oder Juden heraufbeschworen werden. Evangelische und Katholiken, Bauern und Häusler, Kleinhändler und Großkaufleute, zünftige und unzünftige Handwerker, Lehrer und Winkelschulmeister, die Frau eines ratsfähigen Bürgers und die Klöpplerin – sie alle lebten in verschiedenen Welten, zahlten unterschiedliche Abgaben und wären auch in einer Stadt mit 3000 Einwohnern nicht auf die Idee gekommen, einander als ebenbürtige Einheimische zu betrachten.

Vor der Revolution von 1848 (aber man könnte auch andere unruhige Zeiten zum Vergleich heranziehen) waren die Städte, in denen es Industrien gab, um die Hälfte oder ein Drittel gewachsen. Die ortsansässige Bevölkerung vermehrte sich in weit geringerem Maß als jene Gruppen, die damals als Fremde galten. Die ständige “Überbevölkerung” veränderte für den alteingesessenen Bürger spürbar Charakter und Atmosphäre seiner Stadt.

Die Arbeiter in den Fabriken und das Dienstpersonal in den Bürgerhäusern rekrutierten sich zu mehr als 50 Prozent aus Zugezogenen. Das Elend mit den Asylen, mit Bettgängern und Massenquartieren am Stadtrand liegt also gar nicht so weit zurück. Man könnte ebenso gut die letzte Jahrhundertwende oder die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zur Illustration der zumindest in unseren Breitengraden ganz normalen Wanderungsbewegungen heranziehen. Befremden und Irritation lösten bis vor kurzem auch Tiroler in Wien, Bayern in Preußen, Wiener in Judenburg aus.

Sitten und Bräuche, althergebrachte Privilegien und Gesetze, für unveränderlich gehaltene Grenzen und Vorstellungen  mußten über Bord geworden werden, bevor ein Buchdrucker in der Stadt, ein Pfuscher in der Vorstadt, die uneheliche Dienstmagd und die Frau des Bürgermeisters, bevor Wiener und Kremser, Bürger, Adelige und Bauern zu gleichberechtigten Staatsbürgern eines Territoriums wurden.

Wo die Obrigkeiten der Probleme nicht Herr werden konnten, Privilegierte nicht zu Reformen bereit waren, Grundbesitzer sich nicht auf die neue Wirtschaftsweise einstellten, wurden sie hinweggefegt – nicht so sehr in Österreich und Deutschland; aber selbst da konnten alteingesessene Familien zwar ihre Vorurteile, nicht aber ihre heile Welt behalten. Wir nennen das bis heute Demokratisierung. Bevor sie anerkannte Norm war, haben diejenigen, die sich von der Modernisierung bedroht fühlten, den Weltuntergang vorausgesehen.

Die Angst vor Ungewohntem war Futter für die Demagogen. Die Privilegierten mit Sonderrechten und die Verlierer der Modernisierung waren dankbar für Sündenböcke, bis – per Definition nach Gruppenmerkmalen – nur der Herrenmensch zur Zucht der überlebenswerten Rasse ausersehen war.

Wenn der Ariernachweis nicht schon so viel Unglück angerichtet hätte, wäre es gar nicht so uninteressant, die jeweiligen Einheimischen nachforschen zu lassen, wann und unter welchen Umständen ihre Familien als Fremde zuzogen und entsprechend behandelt wurden. Wenn Hunnen und Kelten, ehemalige Tschechen, Oberösterreicher rund Deutsche heute sozialversichert und mit Badezimmer nebeneinander leben, so ist es das Resultat von Reformen und Revolutionen, von sozialen Kämpfen und radikalen wirtschaftlichen Umwälzungen.

Für die Gefühlswelt und Verhaltenskodizes der “Alteingesessenen” war der kulturelle Bruch durch die Öffnung der Städte, die Reisefreiheit und vereinheitlichte Verwaltung der buntscheckigen Gebiete mindestens so groß, wenn nicht größer, als die Veränderungen, die wir zur Zeit erleben. Pauperismus, Überbevölkerung, Wanderungsbewegungen, die brutalen Maßnahmen gegen Fremde und die Emanzipationsbewegungen der Benachteiligten haben die Entwicklung geprägt, mit der wir heute so gut lieben, daß die reichen Länder sich gegen neue Zuwanderer am liebsten abschotten würden.

Die Landflucht aus den unterentwickelten Gebieten in Metropolen,die Arbeit und “freie Stadtluft” versprechen, fällt dieses Mal in eine Zeit, die bisher geltende Erklärungsmuster auf den Müllhaufen der Geschichte wirft. Sowohl die liberalen Theoretiker mit dem Postulat der Chancengleichheit in einer Leistungsgesellschaft wie die sozialistische Definition des Klassenprinzips basieren auf der Annahme, daß Merkmale wie Kultur, Religion, Sprache usw. Von geringer Bedeutung sind. Die Migranten kamen meist aus vorindustriellen Gesellschaften, wo Normen, Traditionen, Bräuche und Lebensstile anders sind als in modernen Gesellschaften.

Ein gemeinsames Bildungs- und Kommunikationssystem, eine universale Wirtschaft und Verwaltung würden so meinten die liberalen Gesellschaftstheoretiker von gestern, die Unterschiede ausgleichen. Und der Marxismus ging, ebenso rationalistisch, davon aus, daß die Proletarier aller Länder durch ihre Stellung zu den Produktionsmitteln geprägt sind.

Daß Marx sich irrte, wissen wir spätestens, seit das Nationalitätenproblem weit mehr Gefühle und Engagement zu mobilisieren vermochte als ein proletarisches Bewußtsein. Und nehmen wir das klassische Land der liberalen Hoffnungen, Großbritannien, so sind auch die dritte und vierte Generation der eingewanderten “West Indies” nicht wie erwartet zu “black British” geworden. Die Konjunktur des Wortes Ethnizität selbst ist ein Versuch, die Bedeutung der nicht-rationalen Kriterien – dem heute zentralen Sprengstoff in kriegerischen Auseinandersetzungen – in soziale Theorien aufzunehmen.

Wer Zeitung liest weiß, daß die Wanderungsbewegungen in und nach Europa lächerlich sind gegenüber den Flüchtlingsströmen, die sich innerhalb der sogenannten Dritten Welt von einem Kriegsgebiet ins nächste schleppen. Aber die Angst – und vor allem die Mittel, gegen diese Angst etwas zu unternehmen, sind die wohlhabenden Westeuropa größer als in Äthiopien oder Somalia.

Die USA haben mit ihrer Mauer an der Grenze zu Mexiko gerade ein eindrucksvolles Beispiel für liberale Lösungsvorschläge gegeben. Der längst überholt  geglaubte Nationalstaat mit Paß und Aufenthaltsrecht für Leute, die irgendwann als Zugehörige definiert wurden, bekommt seine neue Bedeutung, wenn er darüber entscheidet, wohin die Flüchtlinge zurück verfrachtet werden. Es ist kein Scherz mehr, daß Westeuropa dem eisernen Vorhang nachtrauert und Südeuropa von einem Meer träumt, das sich nicht teilt, um Flüchtlinge durchzulassen, sondern eine unüberwindbare Barriere aufrichten möge.

“Multikulti”ist (oder möchte gern sein) eine pluralistisch weltoffene Alternative zum Schmelztiegel. Statt von Steirern und Tschechen auf der Ringstraße, Puertoricanern und schwarzen Südstaatlern in den Straßen New Yorks zu verlangen, daß sie sich anpassen, um dazuzugehören, soll jede der vielen Kulturen ihre Eigenheit bewahren und so die Vielfalt, die Authentizität und den kulturellen Reichtum auch gegen den ohnehin schon mächtigen Trend zur faden Monokultur als Mac Donald, Dallas und einer der drei weißen Sportschuhfirmen verteidigen.

Es ist eine Alternative, die sich besonders für Europa anbietet. Denn Europa hat seinen Vorsprung und seine Ressourcen schon immer aus der Vielfalt unterschiedlicher Kulturen geschöpft. Ursprünglich dachte man ja nur an die EG, auch inklusive ihrer wirtschaftlich nützlichen und doch sehr anpassungsbereiten “Gast”arbeiter.

Kern und Orientierungsrahmen für das kulturelle Selbstverständnis ist nach dem Konzept des multikulturellen (seit neuestem: multiethnischen) Europa nicht mehr die kurze Phase, in der sich Identität nach Ländergrenzen bemaß. An ihrer Stelle tritt das Nebeneinander verschiedener Hautfarben, Lebensformen und Glaubensrichtungen, ohne dominante Kultur, die die Spielregeln vorgibt.

Solange er nicht in die Kellergewölbe und Hinterhöfe geschaut hat, erzählte schon mancher Globetrotter oder auch Soziologe von dem Vergnügen, innerhalb einer Großstadt von Italien über Polen nach Sri Lanka, Anatolien und in den Maghreb zu spazieren. Bunt, vielfältig und voller exotischer Reize. Wir in Österreich kennen das primär von Städtereisen nach London, Paris oder Amsterdam. Denn Wien ist noch sehr weit davon entfernt, Chicago zu werden, auch wenn die arabischen Zeitungsverkäufer und jugoslawischen Gastarbeiter, der polnische Pfuscher und seine Cousine, die so billig putzt, sich nicht mehr aus den Bequemlichkeiten des Alltags wegdenken lassen.

Auch das ist bezeichnend für die Verkehrsformen im multikulturellen Europa. Je weniger ein Land, z.B. Österreich oder Deutschland, mit Fremden aus einer wirklich anderen Kultur, also etwa den früheren Kolonien in Indien und Afrika, bisher konfrontiert war, desto größer ist die Angst, umso blutrünstiger hat sich der Fremdenhaß geäußert.

Hierzulande hat sich, mehr als in anderen Ländern, der Ständestaat noch erhalten. Gesetz, Schikane und ein glückliches Hintanhalten der Moderne haben bisher verhindert, daß “Fremde” selbstbewußt ihre Ansprüche artikulieren. Das Besondere an Österreich – dessen kaiserlich-königliche Geschichte gern zum verklärten Modell eines Völkergemischs umgedichtet wird-  besteht in seiner relativ homogenen Kultur des “Mir san mir”, und Veränderungen mögen wir uns gar nicht erst vorstellen. Bisher war die Integrationsfähigkeit so groß, daß sich keine Gegenkultur entwickeln konnte.

Im Gegensatz zu Frankreich, England, Holland, relativ gesehen sogar zu Deutschland, kann man sich in Österreich noch leisten, die communities von kulturellen Minderheiten kaum zur Kenntnis zu nehmen. Wir kennen keine Ghettoaufstände und sind noch kaum mit der Forderung nach Menschen- und Bürgerrechten der “Ausländer” konfrontiert worden. Die zarten Ansätze, Übersiedler, Arbeitsimmigranten und Asylbewerber als Mitbewohner anzuerkennen, sind mehr Erziehungsprogramm als Öffnung hin zum interkulturellen Europa.

Ich stelle mir vor, vier Bauarbeiter erzählen einander in der Regenpause, wie sie Ostern oder das in ihrem Lande adäquate Frühlingsfest feiern. Einer kommt aus Ghana, einer aus Bosnien, der dritte aus der Slowakei und der vierte ist, sagen wir, ein Student aus Kärnten. Sie unterhalten sich notgedrungen miteinander in gebrochenem Deutsch, das der Kärntner, aufgeklärter Sproß einer selbstbewußten Mittelschichtfamilie, gelegentlich verbessert.

Irgendwann, der Regen hat noch immer nicht aufgehört, laden sie einander zum jeweiligen Nationalgericht ein. Schon das ist eine kühne Utopie. Der österreichische Polier macht selbst im Traum nicht mit, obwohl er vermutlich der einzige ist, dessen Wohnung und Küche groß genug wäre, um vier Leute zu bewirten, zumal er das Kochen und das Bedienen wohl seiner Frau überließe.

Schwieriger ist so ein tolerantes Modell, das niemandem seine Kultur nimmt, wenn ich an die Frau mit Schleier denke, deren Vager und Bruder streng auf die Einhaltung der muslimischen Sitten wachen. Sind wir für die traditionelle Unterdrückung der Frau oder wollen wir, daß auch sie tanzen und Jeans tragen darf? Und wie halten wir es mit der neugewonnenen Nische für den Macho-Kult, der sich – multikulturell – hinter afrikanischen Tänzen austobt? Grenzt es nicht schon an ferne Utopie, wenn ich mir vorstelle, wie ein Punk und ein Bürger im adretten Anzug sich auf der Parkbank zulächeln?

Und wie viel Veränderung von Mentalität, also Eingriff in eine gewachsene Kultur, hätte es erfordert, daß nach Öffnung der Grenzen die westseitigen Nachbarn nicht den Tschechen ihre wenigen Lebensmittel weggekauft hätten, obwohl sie so preisgünstig waren. Die Schule mit Kindern verschiedener Sprachen und Nationalitäten könnte zum Zusammenleben erziehen, wenn, ja wenn nicht ein Lehrer dreißig Kinder zu betreuen und auf das fürs Vorwärtskommen nötige Leistungsziel zu trimmen hätte.

Wenn ich nur an die Verständigungsschwierigkeiten zwischen ehemaligen Ost- und ehemaligen Westberlinern denke, dann scheinen mir pädagogische Überlegungen allein nur mäßig erfolgversprechend. Man müßte – historische Erfahrungen bedenkend – vielleicht an den Opportunismus der Einheimischen rühren. Wie wär’s zum Beispiel mit einem europäischen Paß, den nur bekommt, wer mindestens fünf “Fremde” als Bürgen beibringt und zwei Minderheitensprachen spricht? Vielleicht hülfe eine ordentliche Propaganda, daß die Zukunft der Dritten Welt gehört und wir uns besser rechtzeitig darauf vorbereiten als Minderheit zu leben – weil in jedem Land die Alteingesessenen dann nach dem bis dahin erreichten Stand des Umgangs mit ihren Minderheiten behandelt werden?

Unsere Wirtschaftsordnung, mit der Privilegien von Gutsbesitzern, Zugangsbeschränkungen zu lukrativen Berufen und das Wohnverbot von Bürgern ohne Stadtrecht abgeschafft wurden, hat sich nicht von selbst durchgesetzt, so wenig wie Wahlen, Vertretungen oder Mitsprache in der Politik. Das ist der Vorteil der Betonung und Pflege von jeweils unterschiedlichen Ethnien. Sie bannen die Gefahr, daß Ghanaer und Tunesier, Serben und Kroaten, Türken und Russen sich – wie emanzipierte Bürger oder gar wie die Arbeiter – zusammentun, um ihre Rechte gemeinsam zu erkämpfen. Wenn sie, jung, artig und in verkraftbarer Zahl, gönnerhaft toleriert werden, als Volkstanzgruppen oder als Bedienungspersonal in Restaurants fungieren dürfen, werden diese Fremden vielleicht darauf verzichten, ihre Rechte und Pflichten selbst wahrzunehmen. Oder könnte, wie es die Französische Revolution proklamierte, jedermann Bürger werden, der sich zur Republik bekennt?

Wir kokettieren mit dem Posthistoire, und deshalb läßt sich aus den Lehren der Geschichte nicht mehr schließen, daß diejenigen hoffnungslos zurückbleiben werden, die sich der Realität eines aus vielen Völkern, Sprachen und Kulturen bestehenden Europas verschließen. Weil Geschichte offenbar doch keinem Gesetz gehorcht, brauchen wir nicht den Vergleich zu strapazieren, was mit den in Luxus prassenden Königen und Fürsten geschah, die ihre Untertanen draußen im Land nur auszupressen bemüht waren.

Das Ende des Fortschrittsglaubens hat die Vision vorerst eingedämmt, daß erst eine gewaltige Veränderung der Wirtschaftsweisen und eine Neuverteilung des Reichtums die Probleme – vielleicht nicht lösen, aber anders einschätzen werden: Auf eine den gesteigerten Möglichkeiten von Technik und Macht adäquate wahnwitzige Art wie bisher, oder in einer den gesteigerten Möglichkeiten der Kommunikation und Eingriff entsprechenden vernünftigen Weise. Keiner weiß,m wie die Welt von morgen aussehen wird, aber die Stadttore lassen sich nicht mehr schließen. 

 

Aus: Die Presse 23./24. November 1991 (deshalb noch mit ß)