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Einladung im Hackerspace X-hain

Auf der Suche nach dem roten Faden


Als ich im April zum ersten Mal hier war, ging es um Dystopien. Aufgrund

meiner Herkunft und Geschichte fühle ich mich genötigt, dem etwas

entgegenzusetzen. Der Reflex hat damit zu tun, dass ich aus einer jüdisch-

kommunistischen Remigrantenfamilie komme, kurz nach dem 2. Weltkrieg

geboren und im nicht gerade liberalen Wien der 50er Jahre – in Floridsdorf,

dem russisch besetzten Bezirk jenseits der Donau – aufgewachsen bin. Ich

bin mit dem Weltverbesserungsgen geimpft geworden.

Wenn ich den Blick über meine Regale schweifen lasse, steht da viel 18. und

frühes 19. Jahrhundert, etliches zu Exil, zu Juden, Emigrantinnen,

Intellektuellen, Außenseitern und über diverse Auf- und Umbrüche.

Radikale Umbrüche – ob Ende des 18. Jhdts, in den 1960ern, nach 1989 und

jetzt gehören zu meinen Lieblingsthemen. Flucht und Emigration wurden

schon wegen meiner Biographie früh an mich herangetragen. Später hatte

ich als Redakteurin der Gegenworte Gelegenheit meine Bildungslücken in

Technik und Naturwissenschaften zu stopfen, und konnte meine

Angebotspalette mit Wissenschaftsgeschichte und -vermittlung ergänzen.

Ich habe vieles ausprobiert, abgebrochen und neu angefangen. Wenn ich

davon absehe, dass ich für Schulkolleginnen Liebesbriefe geschrieben und

die Matura (=Abi) Zeitung m.o.w. im Alleingang verfertigt habe, war der

Eintritt ins schreibende Gewerbe ernüchternd. Ich hatte in Wien “nur” eine

Wirtschaftsfachschule absolviert und wollte doch Journalistin werden. Mein

Zahnarzt empfahl mich einem seiner Patienten, der eine Wirtschaftszeit-

schrift herausgab. Als ich nach diversen niederen Tätigkeiten einen Artikel

schreiben durfte, wurde der zwar gedruckt – aber durch Streichung und

Ergänzung inhaltlich umgedreht. Es ging um die Situation von arabischen

und afrikanischen Studenten, die damals im Wien Mitte der 1960er Jahre

noch arg segregiert lebten. Der Chef machte aus meinen Material ein Pro-

Apartheid-Pamphlet. Selbstverständlich habe ich empört gekündigt – und

gelernt, was “liberal” heißt. Nach einer Woche rief der Chef an und fragte,

ob ich, wenn ich ideologisch solche Bedenken hätte, als Fotografin bei ihm

arbeiten wolle. Ihm waren meine politischen Bedenken egal, er fand sie

wohl nur komisch und hätte sowieso immer das letzte Wort gehabt.

Ich kam nach Berlin, als die Studentenbewegung (ierende gab’s noch nicht)

anfing. Damals waren kinderwagenschiebende Männer noch rar,

autofahrende Frauen wurden mit blöden Witzen bedacht, übermütige

Mädchen waren suspekt. Als wir hüpfend auf den Straßen demonstrierten,

waren Sprüche à la “Das hätte es unter Adolf nicht gegeben” oder “Euch

sollte man vergasen” normal. Insofern ist das Glas halbvoll. Die kulturellen

Muster verschwanden erst, als die Generation, der sie eingebläut worden

waren, ausstarb.

Für mich war es logisch, dass ich mich kopfüber in die Protestbewegung

stürzte, an Demos, Diskussionen und Pamphleten beteiligte. Auch wenn

meine Motive für politisches Engagement oft andere waren als die

normaldeutscher Studienkollegen, fand auch ich Hippies, Anarchistisches,

Spaßguerilla und Sponti-Aktionen – die 66, 67 noch dominierten – lustig

befreiend und schön. Und weil es mir ja immer auch um Verbindungen zu

heute geht, erwähne ich, dass die Hetze gegen Minderheiten und das

Medienmonopol – (“Enteignet Springer”) – eine wichtige Rolle spielten.

Debattiert, gestritten und abgegrenzt wurde damals nicht in Salons, eher in

Küchen, Kneipen und auf Konferenzen. Als Gegenkultur, in der steile

Thesen und Programme für eine gerechtere Zukunft verbreitet wurden,

fungierten neue Zeitschriften, Teach-Ins und aus dem Boden sprießende

kleine Verlage. Nachdrucke von Büchern aus den 1920er und 30er Jahren,

die in dem langen Schatten der NS-Zeit weder auf dem Markt noch in

Bibliotheken zu bekommen waren, wurden qua Bauchladen in den

einschlägigen Lokalen verkauft (Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation steht

noch in meiner Bibliothek). Damit entstand eine neue Öffentlichkeit erst in

Nischen und nach und nach auch in etablierten Strukturen. Der

Kulturbetrieb war noch nicht so rasant und spezialisiert wie jetzt, es gab

keine Kurse in Creative Writing, keine Literaturhäuser und nur wenige

Literaturpreise oder -stipendien. Aber die Honorare waren, zumal beim

Rundfunk, gut bis sehr gut, Mieten billiger, die Redakteure freundlich oder

sogar neugierig.


Bevor ich Muße und Geld fand, um ganze Bücher zu schreiben, publizierte

ich in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden: Kritik an allem,

verbunden mit Glaube und Hoffnung, dass eine andere Politik, andere

Lebensformen, auch andere Geschlechterrollen möglich wären (maskulin/

feminin erschien 1972, heute würde man den Titel umdrehen). Eine

Schulfreundin hatte mal gesagt: Du hast es gut, Du kannst Dich über

Bücher freuen. Sie konnte es offenbar nicht. In einer der neuen

Zeitschriften warb ich für Zugang zu dieser Sucht. Als die Protestbewegung

ihre Kraft verlor und die politisch Engagierten todernst und fanatisch

wurden, schrieb ich über Mittel gegen Resignation Ja doch, es kommen

grausige Zeiten in: Und es bewegt sich doch … Texte wider die Resignation.

Da die Gastgeberin und wohl auch die Gäste ein Faible für Salons haben,

berichte ich – antichronologisch – von einem Beitrag, der vor einem

Vierteljahrhundert erschienen ist. “Deutsche Schwestern” hieß der Band

Nicht zufällig wurde ich um einen Text über die Töchter Moses

Mendelssohns gebeten. Immerhin als “deutsche Schwestern” integriert,

was damals nicht selbstverständlich war.

Man weiß viel über Brendel, die spätere Dorothea Schlegel, Muse der

Romantik, Inbegriff einer doppelten Emanzipation. Sie hat sich von ihrem

ungeliebten Mann Simon Veit scheiden lassen, hat – was damals und

insbesondere für ihre Familie unerhört war – in wilder Ehe mit ihrem acht

Jahre jüngeren Geliebten Friedrich Schlegel gelebt, sich erst protestantisch

und später katholisch taufen lassen. Ihr Sexualleben wurde durch Schlegels

Buch “Lucinde” öffentlich und löste weit über Berlin hinaus einen Skandal

aus. Sie gehört zu den berühmten “jüdischen Salonièren” am die Ende des

18. Jahrhunderts, gilt als Erfinderin der romantischen Ehe und bis heute als

Vorbild weiblicher Emanzipation. Brendel/Dorothea hat viele Briefe an

Freunde und Freundinnen geschrieben, sodass sich ihr Leben und Fühlen

gut rekonstruieren lässt. Es gibt kaum ein Buch über die frühe Romantik, in

dem sie nicht eine wichtige Rolle spielt. Weit weniger bekannt ist ihre zwölf

Jahre jüngere Schwester Henriette, die vorwiegend in Paris gelebt und dort

eine Art Kindergarten für Mädchen gegründet hat. Offenbar hat sie schon

moderne Erziehungsmethoden angewandt, die (z.B. von Rousseau) nur für

Knaben propagiert wurden. Später war sie bei einem Napoleonischen

General Erzieherin seiner Tochter. Henriette war nicht hübsch, war bucklig

wie ihr Vater, hat nie geheiratet und gehört zu den ersten Frauen, die von

ihrer eigenen Arbeit nicht bloß überleben, sondern gut leben konnte. Sie

sprach französisch und englisch “wie eine Einheimische” und war in Paris

Anlaufstelle für viele der deutschen Reisenden: August Wilhelm Schlegel,

Wilhelm, Caroline, Alexander von Humboldt, Mme de Stael, Adelbert von

Chamisso u.a. schätzten sie. Durch sie wurde ich auf Karl August

Varnhagen aufmerksam, der ihren scharfen Verstand lobt, ihm habe ich ein

paar Jahre später das Buch Karl August Varnhagen und die Kunst des

geselligen Lebens gewidmet. Die dritte Schwester, Recha, hat einen

jüdischen Kaufmann geheiratet, mit dem sie nach Hamburg zog, auch sie

hat Kinder betreut; vermutlich hat Henriette bei ihr das erzieherische

“Handwerk” gelernt. Nur hat sie leider kaum korrespondiert, weshalb

wenig überliefert wurde. Anders als Dorothea, Henriette, die schöne

Henriette Herz und die nicht hübsche Rahel Levin ist sie nicht konvertiert.

Was zu weiteren Lieblingsthemen führt, die ich in Büchern und Aufsätzen

behandelt habe: Einflüsse der französischen Revolution, weibliche und

jüdische Emanzipation, die Kunst der Geselligkeit und die Kunst, Briefe zu

schreiben.

Zurück in die 1960er Jahre: 1969, hatte ich im Weiberkursbuch für die

Emanzipation der Männer plädiert, weil sie sonst nichts mit uns anfangen

können, damals bekam mir das nicht gut. Bis heute diskutiere ich mit

gleichaltrigen Frauen, ob wir, als wir nach emanzipierten Männer gesucht

hatten, der Zeit voraus oder zu wenig feministisch waren. Mit diesem Text

rutschte ich in den neuen, gemessen an dem was vorher war, viel

lebendigeren und politischen Medienbetrieb, schrieb für Zeitungen,

Zeitschriften und Sammelbände und hatte die Weisheit mit Löffeln

gefressen. Wir haben über Emanzipationen gestritten, und das hatte stets

mit dem Weltganzen, mit Kritik am Kapitalismus und Entfremdung zu tun,

was sich in einer Sprache niederschlug, mit der ich inzwischen ein Problem

habe. Wir wollten eine andere Gesellschaft, Rechte für Frauen + für alle

Unterdrückten. Die einen waren für den Marsch durch die Institutionen,

andere für Berufstätigkeit der Frauen, wieder andere forderten “Lohn für

Hausarbeit”. In meiner Blase wollten Frauen nicht so potent und

konkurrierend werden wie es die Männer-Rollen vorsahen, Karriere war

igitt. “Vollständig, nicht vollkommen” oder “jemand, nicht etwas werden”

hießen unsere Schlagworte. Noch debattierten wir miteinander. Ins

postfaschistische Westdeutschland wehten zu der Zeit Nachrichten von

Bürgerrechtsbewegungen in den USA, von Rock-Gruppen in

Großbritannien, von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der

Tschechoslowakei und von Anti-Vietnam-Protesten sowieso. ///

1969 zog ich nach München, schrieb für Zeitschriften, Rundfunk und sog.

“graue Literatur”, war Teil eines der ersten linken Kleinverlags-Kollektive

(Weismann). Irgendwie habe ich noch schnell meinen Magister in

Germanistik absolviert, über den Verleger Ernst Keil und die die

Gartenlaube – das erste deutsche Blatt für ein “Massenpublikum”. Mich hat

der Übergang vom Handwerk zu Industrie im Schreibgewerbe interessiert.

In der Schmachtliteratur aus Fertigteilen mit genau berechneten

Cliffhängern erkenne ich heute die Ahnen von Chat-GPT, und überlege, ob

und wie sich meine damals gesammelten Weisheiten über Manipulation,

Hirnwäsche und Massenmedien in die Gegenwart übersetzen ließen.

Der Radikalenerlass von 1972 und das damit verknüpfte Berufsverbot

förderten prekäre Beschäftigungen im Off-Sektor und in “freien” Berufen.

Wieder in Berlin tauchte ich in die Abgründe des Neuköllner Proletariats.

Die Erfahrungen publizierte ich in unter dem Titel: Mit dem Taschenmesser

im Urwald eine Eisenbahn bauen. Die Zeitschrift, in der ich das

veröffentlicht habe, hieß “alternative”. Das Umdeuten von Sprache, Riten

und Ideen finde ich quer durch die Geschichte höchst spannend. Zu

markanten Veränderungen gehören auch unsere Kurse “Deutsch für

Türken” an der VHS. Dafür gab es noch keine Lehrbücher. Wir haben eines

entworfen – was daraus wurde ist eine lehrreiche Geschichte, die ich

weglassen muss.

Neue Zeitschriften, Kleinverlage, Off-Theater und allerlei freie Berufe

öffneten den Markt und die Hirne jenseits des Mainstreams, weiteten den

Horizont ähnlich wie heute Bücher und neue Medien türkische, syrische,

persische, ukrainische oder lettische Literatur ins deutsche Bewusstsein

tragen. In mancher Hinsicht scheint mir das durchaus vergleichbar mit dem

neuen Wind, der im letzten Drittel des 18. Jahr-hunderts durch deutsche

Kleinstaaten wehte, als ausländische Zeitschriften, Übersetzungen, Briefe

und Reiseberichte zugänglich wurden.

Damit komme ich zu dem Mann, der mich ins 18. Jahrhundert verführt hat.

Er heißt Philipp Erasmus Reich, man muss ihn nicht kennen, aber es ist

schade, dass Figuren wie er in der deutschen Literaturgeschichte lange

unterschlagen wurden. Reich war Verleger in Leipzig, der erste, der

Autoren feste Honorare zahlte, ein Reformer des Buchhandels. Er wurde

wegen seines Kampfs gegen den Nachdruck bekannt – und geschmäht. In

einem auch wieder etwas kühnen Vergleich ging es um Fragen, die jetzt

unter der Überschrift Urheberrecht, Plagiat, copy/paste und Datenklau

diskutiert werden. Reichs Modernisierungen haben sich von Sachsen aus

über die deutschen Länder ausgebreitet. Es war die Zeit der damals oft

beklagten “Leseseuche”, die auch als Gefahr gesehen wurde. Das lesefähige

Publikum wuchs, es entstand ein Markt für Belletristik, in neuen

Zeitschriften, Briefen, auch Leihbüchereien und Cafés tauschten sich

Autoren und Leser, und ja, auch Leserinnen, aus. Zwar gab es Zensur, aber

zu den Vorteilen deutscher Vielstaaterei gehörten deren unterschiedliche

Handhabung und damit Umgehungsmöglichkeiten. Die zahlreichen

Übersetzungen brachten neues Gedankengut und neue Sitten in literarisch

rückständige deutsche Lande. Literatur und Bildung wurden zur Basis für

eine wachsende Zahl bürgerlicher – meist von Frauen initiierter – Salons,

in denen diskutiert und Antworten entworfen wurden.

Ich lebte inzwischen in Tübingen, Reich wurde mein Dissertationsthema,

und dabei lernte ich das Handwerk des Forschens, Wühlens und Planens.

Weil ich einen österreichischen Pass besitze, konnte ich schon in den 1970

und 80er Jahren in DDR-Archiven arbeiten, in Leipzig, Dresden, Berlin-Ost.

Österreich unterhielt seit 1972 diplomatische Beziehungen zur DDR, was im

Kalten Krieg keine Selbstverständlichkeit war, 1978 war zwischen den

beiden Staaten Kulturabkommen geschlossen worden, woraus allerlei

kulturelle und wirtschaftliche Kooperationen zwischen Ö und DDR

entstanden. Für Buchbesprechungen im Funk bekam man damals pro Titel

eine halbe Stunde Sendezeit, von dem Honorar konnte ich fast einen Monat

leben. Neues Handwerk lernte ich auch beim Tübinger Tagblatt, die Arbeit

schloss ja den Kontakt zum Alltag in der Kleinstadt ein. Ich würde gerne

mehr über Reich erzählen, aber dann bliebe keine Zeit für die anderen

Bücher, und mit ihm fing mein Faible für das 18. Jahrhundert erst an. In

Leinen gebunden, grün, A 4 Format erschien das Ergebnis meiner Studien

gleichzeitig mit meinem Sohn Anfang 1986 (wir hatten gewettet, wer zuerst

kommt – sie kamen gleichzeitig. Mein Sohn heißt deshalb – wenn auch nur

mit drittem Namen – Erasmus).

1980/81 kam ich wieder nach Berlin und betreute bei der Preußen-

Ausstellung der Berliner Festspiele die Öffentlichkeitsarbeit. Danach war

ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der FU

Berlin, schrieb, lehrte, diskutierte und versuchte vergeblich,subversiv zu

sein. Wissenschaftliche, kulturelle und politische Szenen überschnitten sich

ja noch. 1988 erschien in einem jungen Kleinverlag Aus Nachbarn wurden

Juden – Ausgrenzung und Selbstbehauptung 1938 – 1942 mit Fotos des

renommierten, nach 1938 mit Berufsverbot belegten Fotografen Abraham

Pisarek. Aus den Bildern entstand in Kooperation mit einem prä-digitalen

“Netzwerk” eine Ausstellung mit den Fotos, die durch die Lande gereist ist.

Juden waren hier normale Menschen, nicht die ganz Anderen, Fremden, als

die sie bis heute noch oft dargestellt werden. Ich war sehr zufrieden als die

Besucher sagten: “Huch, das könnte ja auch meine Großmutter sein.”

Ergänzt habe ich den Band mit Briefen meiner Mutter, die 1938 versucht

hat, aus Österreich herauszukommen. Ihren Eltern gelang es nicht.

Ende 1988 verließ ich mal wieder Berlin und zog nach Wien, erst einmal

provisorisch, aber ich war keine zwei Wochen dort, als ich gefragt wurde,

ob ich die Redaktion des “Wiener Tagebuch” übernehmen würde. Die

Zeitschrift war 1968 von Menschen gegründet worden, die im Spanischen

Bürgerkrieg gekämpft oder KZs überlebt hatten oder nach 45 aus der

Emigration nach Österreich zurückgekehrt waren. Sie waren seit den

1920er und 30er Jahren Kommunisten und nach dem Einmarsch der

Sowjets in die Tschechoslowakei, manche schon zuvor, aus dieser Partei

ausgetreten. Das Wiener Tagebuch war ein Organ des Eurokommunismus

und die einzige deutschsprachige Zeitschrift, in der Dissidenten aus dem

Ostblock und Reformkommunisten aus Frankreich, Italien oder auch

Australien veröffentlichten. Junge Linke schrieben hier ihre ersten Artikel.

Und da ich offenbar eine Gabe habe, zu kommen, wenn es spannend wird,

begann die “Waldheim-Affäre” Österreich zu verändern. Die Zeitschrift, die

vorwiegend von betagten Ehrenamtlichen betreut wurde, ließ sich nach

dem Ende des “soz. Lagers” nicht mehr halten. Ich habe diese

beeindruckenden, schwer gebeutelten und doch nicht verzagten Menschen

interviewt und über ihre Hoffnungen und verlorenen Illusionen ein Buch

gemacht: Beim Sichten der Erbschaft. Wiener Bilder für das Museum einer

untergehenden Kultur. Erschienen bei persona, ein Klein + 1-Frau-Verlag,

der vier meiner Bücher herausgegeben hat, keine Bestseller, wie sich schon

von den Themen her versteht.

Ich schlug mich als alleinerziehende Mutter tapfer durch, schrieb Artikel

und Essays für deutsche und österreichische Publikationen, verdiente mein

Geld mit Lehraufträgen und einer Halbtagsstelle, wie man das als Mutter so

macht bzw. unter damaligen Umständen halt machen musste.

Als der Eiserne Vorhang an der Grenze zu Ungarn von Alois Mock und

Gyula Horn im Juni 89, also ein halbes Jahr vor dem Mauerfall, geöffnet

wurde, war auch das ein von großen Hoffnungen begleiteter Aufbruch. In

den folgenden Jahren organisierten Optimisten und Idealisten Kongresse

und Tagungen, verfassten Bücher und Broschüren, in denen Visionen eines

neuen friedlichen durch Kultur vereinigten freien Europas entworfen

wurden. Es war eine kurze heiße Zeit voll spannender Begegnungen mit

Menschen vom ganzen Kontinent, die sich über die neue Freiheit freuten, in

zuvor kaum erreichbaren Städten (Talinn, Bukarest, Budapest, Prag

sowieso). Durch NGOs, Stiftungen, Künstler- und Autorenverbände, auch

mit Hilfe von Europarat und EU entstanden europäische Kulturpolitiken und

Netzwerke einer europäischen Öffentlichkeit (Kulturpolitik, ein Schalk in

Europas Nacken. Und: Vom Schalk zum Hofnarren). Bald aber, in Wien

recht nah, kam der Krieg in Jugoslawien: Verfolgungen, Geflüchtete, Ende

vieler Illusionen, plus neuer physischer und ideologischer Grenzziehungen.

In Wien lang es nahe, mir die lange Geschichte von Zuwanderungen näher

anzuschauen, sie spielten in der multiethnischen österreichischen

Geschichte eine größere Rolle als in den deutschen Ländern. Ich

beschäftigte mich mit den Völkerwanderungen in der k.u.k. Monarchie,

einer der Texte hieß Wien – Ostcharme mit Westkomfort, verglich die

Gedenkformen in Ö und D, war Lehrbeauftragte in verschiedenen Fächern

und konnte damals die Beiträge noch mehrmals verkaufen. (Es gab noch

kein Internet und wenig Kommunikation zwischen den Blättern). Ein

Ökonom, der die Transformation der ehemals sozialistischen Länder

untersuchte, meinte, Kultur gehöre zum Thema dieser Umwandlung

sozialistischer Länder und holte mich an die Österr. Akademie der

Wissenschaften; ich war die bunte Hündin in dem Team, schrieb über

Kultur & Ökonomie, über Multi- Trans- und Interkulturalismus, Ost-West-

Kulturverstrickungen und Tote Intellektuelle. Statt die Lebensstellung in

dem gemütlichen Wien zu genießen und endlich zur Ruhe zu kommen, stieg

ich aus. Es war verrückt, aber ich hielt das gut bürgerliche Wiener Leben

nicht aus. Und schrieb Die Grazie der Intellektuellen. Natascha und der

Faktor S., es war der Versuch, die Reste einzusammeln, die von den

Hoffnungen der ‘68, der Kommunisten, Remigranten und Emanzen

geblieben sind, inklusive Suche nach neuen Gründen für Optimismus.

1997 zog ich wieder nach Berlin und fing nochmals was Neues an. Wieder

hatte sich für kurze Zeit ein Fenster geöffnet: Mitte der 1990er Jahren

wuchs auch in Deutschland das Interesse etablierter Institutionen,

Wissenschaft in die Gesellschaft zu tragen: Science in society, Public

understanding of science, oder wie in einem der ersten Hefte der Zeitschrift

Gegenworte gefragt wurde: Muss Wissenschaft hinein ins Leben? Die

“Gegenworte – Zeitschrift für den Disput über Wissen” sind an der aus

DDR-Beständen zusammengeflickten Berlin-Brandenburgischen Akademie

der Wissenschaften entstanden. (Die Zeitschrift existiert nicht mehr.) Es

war ein kühnes Projekt, für das ich Konzept und Ideen zur Gestaltung

entwarf und die Redaktion übernahm. Dabei habe ich mich mit

Akademikern aller Disziplinen, auch mit Naturwissenschaftern und

Technikern über ihre Texte gebeugt. Als Maskottchen für meine Glosse

erfand ich Die fliegende Schildkröte. Sie konnte verschiedene Disziplinen

überfliegen und verbinden, denn die Hefte waren interdisziplinär. Zu den

hochfliegenden Ansprüchen gehörte die Betonung von Zusammenhängen

zwischen den verschiedenen Fächern. Sie waren schon durch die

Themenwahl gegeben, wie bei Lug und Trug in den Wissenschaften,

Sprache in den Wissenschaften oder in den Heften über Forschungsfreiheit,

Utopien und Dystopien in den Wissenschaften u.a.. Damit verbunden war

das Erproben einer Sprache zwischen Fachjargon und Werbetalk (hat sich

verbessert). Ich gründete einen Schönheitssalon für wissenschaftliche Texte

und tingelte als postmoderne Schnittstellenpersönlichkeit durch

wissenschaftliche Einrichtungen. Noch gab es diesen “spirit”, wollten sich

auch etablierte Akademiker, wie es im Titel des ersten Heftes hieß: Vom

Rang ins Parkett bewegen. Der Trend hatte handfeste Gründe:

Nachwuchssorgen und Brain-Drain in den Naturwissenschaften. Vorbilder

für diese Bemühungen um Demokratisierung der immer noch

absolutistischen Academia waren Holland und England, wo schon länger um

Akzeptanz für das viele Geld geworben wurde, das Wissenschaft kostet. Mit

workshops, Ausstellungen, Kinderunis und dem noch unterentwickelten

Wissenschaftsjournalismus entstanden ! ha, schon wieder – neue Medien

und neue Formen von Öffentlichkeit.

Zurück ins 18. Jahrhundert. Der schon erwähnte Varnhagen, bekannt vor

allem als Gatte der berühmten Salonière Rahel Levin, der späteren Rahel

Varnhagen (wie sie erst hieß, als ihr erster Salon nicht mehr existierte), war

keineswegs der unbedeutende “Kopist” oder “Witwe Rahels”, wie ihn

Hannah Arendt in ihrer Rahel-Biographie bezeichnet hat. Er gehört zu den

wenigen Männern, die primär durch ihre Frau bekannt wurden. Er hat den

Nachlass seiner 14 Jahre älteren Gattin herausgegeben, ohne ihn wüssten

wir nur wenig über die geniale Kommunikatorin. Inzwischen weiß man

mehr über den Autor, Übersetzer, Sammler nicht nur ihrer Briefe, auch

Lektor für Alexander von Humboldt. Im Ausland genoss er schon im 19.

Jahrhundert einen besseren Ruf als in Deutschland, wo er nicht in die

idealistischen Vorstellungen von Literatur passte. Mit ihm konnte ich die

aufregende Zeit politischer, sozialer und kultureller Umbrüche um 1800 von

der Seite, von unten und jenseits des Rampenlichts beleuchten. (Karl August

Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens. Der Arsenal-Verlag, in dem

das Buch erschien, wurde kürzlich eingestellt.)


Ich liebe Kleinverlage, bin von deren Bedeutung und Förderungswürdigkeit

überzeugt, habe aber selbstredend nicht abgelehnt, als ich von einem

Herausgeber der Anderen Bibliothek gefragt wurde, ob ich über Caroline

und Wilhelm von Humboldt schreiben könnte. So kam es zu dem Buch

Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt. Bill

und Li, wie sie einander nannten, haben eine erstaunlich moderne Ehe

geführt. Da sie oft voneinander getrennt waren, sind viele Briefe erhalten,

an einander sowie an viele Freunde und Freundinnen Drei Tage in der

Woche verbrachten sie mit Briefschreiben, zudem wurden ständig Besuche

gemacht und empfangen. Sie lebten – teils gemeinsam, teils getrennt – in

Thüringen, in Berlin, Paris und Wien, in Rom und London, reisten quer

durch Spanien, verkehrten mit Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern.

Meine guten Beziehungen zu Forschungsstellen der BBAW halfen mir, in

die Schlingerbewegungen der damals neuen kulturellen Trägerschicht

einzutauchen. Es war eine überschaubare Minderheit, die ein bis heute

oder zumindest bis vor kurzem wirksame Ideale, Gedanken und

Verhaltensweisen neu geformt hat.

Schon davor wollte meine Freundin und Lieblingsverlegerin Lisette

Buchholz (persona-Verlag) verschiedene meiner Aufsätze zu jüdischen,

vergangenheitsbewältigenden oder mit Antisemitismus konnotierten

Themen in einem Buch sammeln. Nach Fertigstellung des Humboldt-Buchs

nahmen wir dieses Projekt wieder auf. Weil ich nicht nur “alte Hadern”

abliefern wollte, schrieb ich ein Drittel neu: Es erschien unter dem Titel:

JUDEN NARREN DEUTSCHE – in Großbuchstaben, so bleibt offen, ob

‘narren’ ein Verb oder Substantiv ist. In dem Bändchen Eitelkeit. Ein

spärlicher Name für einen überquellenden Inhalt (bei dem Verlagskollektiv

hochroth) ging es um die Annäherung an schwer fassbare Themen, also

primär um Handwerk. Nach dem Tod meiner Mutter stellte ich den Band

Erstaunter Blick zurück zusammen; mit “meinen” Studierenden entstand

Brückenschlag per Sprache und mit Kollegen der Sammelband:

Wissenschaftskommunikation. Streifzug durch ein ‘neues’ Feld. Ich gab

Workshops, um den Dialog zwischen Angehörigen unterschiedlicher

Stämme zu befördern.


Als ich über Clemens Fürst von Metternich, den Bösewicht des frühen 19.

Jahrhunderts schreiben wollte und fast alles abgemacht war, erfuhr der

Verleger, dass eine große Metternich-Biographie geplant sei. Das Projekt

war damit gestorben. Ich schrieb dann Karl Huß, der empfindsame Henker

– seine ungewöhnliche Geschichte war ursprünglich für ein Kapitel im

Metternich-Buch vorgesehen. Der Henker aus einer langen Tradition von

Henkern war ein exemplarischer Außenseiter, dem die Aufklärung über

viele Umwege eine Integration ermöglicht hat: an seinem Lebensabend

wurde er Kustos bei Metternich. Denn neben seinem grausigen Handwerk

sammelte er Steine, Münzen und Gerätschaften, die er sich an Zahlung statt

von Bauern geben ließ. Da er notgedrungen viel vom menschlichen Körper

verstand, war er auch als Heiler tätig. Die Schickeria aus Karlsbad fand ihn

originell und besuchte sein kleines Museum, so auch Goethe.

Congress mit Damen. Wien 1814/15 knüpft daran an. Zuchtmeister dieses

Kongresses, mit dem Europa neu geordnet wurde, war bekanntlich

Metternich. In diesem Buch stehen Frauen im Vordergrund – solche, die

trotz des Interesses an weiblichen Protagonistinnen kaum gewürdigt

wurden, weil sie privilegierte Adelige waren. Dennoch spielten sie – u.a. in

Salons – eine wichtige Rolle bei politischen Entscheidungen. Wieder konnte

ich bei den Recherchen studieren, wie sich Ideale verkehren, Hoffnungen

zerstört werden, Ideen mutieren. Als 1814/15 gewürdigt wurde, reiste ich

mit dem Buch und vielen hübschen Bildern durch die Lande und erzählte

von diesem Umbruch in Europa, den Damen, den Widersprüchen und

Ambivalenzen der beteiligten Figuren.

Kurz bevor Corona auch mich aus der Bahn bzw. vom Markt warf, erschien,

wieder bei persona, Simon Veit, der missachtete Mann einer berühmten

Frau über den vorhin erwähnten ersten Mann Brendel Mendelssohns, der

späteren Dorothea Schlegel. Es war neues Material aufgetaucht, der

geschmähte Gatte entpuppte sich bei den Recherchen als großzügiger,

erstaunlich verständnisvoller Mann, der seine Frau und Friedrich Schlegel

immer unterstützt hat. Außerdem war er eine ideale Figur, um den Prozess

der Emanzipation innerhalb der Berliner Jüdischen Gemeinde seit den

Reformen seines Schwiegervaters Moses Mendelssohn zu erforschen.


Usw. usf. mit allerlei Zeitungsartikeln zu aktuellen Themen, von verbotenen

Judensauen bis zur erlaubten Nacktheit. Meine Protagonisten sind nur

insofern Vorbilder, als sie mit Umbrüchen und Unsicherheiten umgehen

mussten. Anstelle des Großen und Ganzen und den schnellen Antworten

interessieren mich nun Ambivalenzen, Widersprüche und die Frage, wie

man mit Chaos und Komplexität umgehen kann. Derzeit beschäftigen mich

KI & eine persische Königin aus dem 5. Jhdt. v.u.Z.. Als Fan des

transgenerationellen Dialogs weiß ich, dass jenseits von kalifornischen

Milliardären und twitternden Shitstormern neue Kommunikationsformen

entstehen – auf Plattformen, in Netzwerken und bei physischen Treffen,

außerkommerziell – wie in open-source communities, im Indie-Web, bei

Wikipedia, mit gemeinwohlorientierter KI und in Hacker-spaces wie diesem.

Weltverbesserungsgeschult spekuliere ich, ob bald das neue Internet

entstehen würde, das Gerd Gigerenzer in seinem Buch „Klick“ an die Wand

malt. Ich bin keine hauptberufliche Schriftstellerin, war weder in der Villa

Massimo noch in Wiepersdorf oder sonst einem der bezahlten Schreib-

Refugien. Das wäre mit Kind und nicht zuletzt aufgrund meiner mangelnden

Begabung für Zugehörigkeiten auch schwer gewesen.

Je ne regrette rien. Obwohl – die Wohnung, die ich in Wien hatte und die

Rente, die ich bekommen hätte, wenn ich geblieben wäre, würde ich nicht

verachten. Ich danke Euch, v.a. Maria Reimer, weil ich beim Vorbereiten

keinen roten, aber einen rosaroten Faden gefunden habe. Er zieht sich

durch meine Texte: sie haben mit Öffentlichkeiten – im Plural, mit

Gegenöffentlichkeiten und Öffnungen zu tun, mit Brücken zwischen

abgeschotteten Gruppen, zu verschiedenen Zeiten. Sie handeln von Medien

und verschiedenen Mitspieler, zu denen auch die Besitzer (selten -innen)

samt deren Interessen gehören. Etwas theoretischer formuliert geht es um

jene vierte Gewalt, die für Transparenz, Kontrolle und neue Ideen zuständig

ist, sein sollte – oder werden könnte. Es sind Geschichten vom Heran- und

Herauswachsen neuer kultureller Trägerschichten, die neue Sitten und

Gebräuche etablieren. Da ich viel darüber geforscht habe, denke ich, dass

diese Geschichte noch lange nicht zu Ende ist.