Netzpräsenz
Emanzipation 2019
Mir fällt der Lippenstift aus der Tasche, Rolf hebt ihn auf und schon stecken wir in einer Diskussion über Emanzipation – der Männer. Mir fallen diverse Erlebnisse ein, z.B. dass mir ein Mann in den Mantel helfen will und dann zurückweicht, mit der Bemerkung: Du bist ja emanzipiert, da darf man das nicht – oder? Ein Zeichen von Verunsicherung, und das kann ja gut fürs Nachdenken sein.
Rolf meint, er hätte jahrelang darüber nachgedacht, was ein Mann sei. Ist das schon Teil der vermaledeiten Identitätsdiskussion, in der die eine Wurzel, das eindeutige Merkmal erst für die anderen und dann für sich selbst verbindlich werden soll? Türkischstämmig, homosexuell, lesbisch und wie die Zuschreibungen noch heißen. Ich denke an ein Gespräch mit Ruth Gross, die als kleines Mädchen den gelben Stern tragen musste und einen Bekannten fragte, was das ist „Jude“. Der sagte ihr damals, es gibt Hunderte Arten jüdisch zu sein, die Einzigen, die wissen, was das ist, sind die Nazis. An den Satz muss ich oft denken und vielleicht gibt es auch Hunderte Arten, ein Mann zu sein.
Komischerweise wusste ich schon vor 50 Jahren, dass die Emanzipation nicht nur der Frauen, sondern der Männer in unserem, zumindest meinem Interesse liegt. Wieso ich das schon als junges Mädchen verstanden habe, ist mir ein Rätsel, weiß es auch nur, weil ich in einem Artikel schrieb, dass wir ihnen dabei helfen müssten, weil sie sonst eines Tages vor uns stehen und wir nichts mehr mit ihnen anfangen können. Genau das ist passiert. Seither ist viel Wasser die Spree, die Donau und den Ganges hinuntergeflossen, und doch gilt Emanzipation immer noch primär als Frauenfrage. Der Umgang zwischen den Geschlechtern, weiblich, männlich und alles dazwischen, hat sich mit den Generationen verändert, aber – so ging das Gespräch mit Rolf weiter – es geht nicht nur und nicht allein um Geschirr abwaschen, Windeln wechseln oder Elternurlaub. Schlimm genug, dass immer weniger Frauen mit Augenaufschlag bewundernd männlichen Welterklärungen zuhören oder Junx gar gezwungen werden, im Sitzen zu pinkeln, Männer agieren anders – auch, aber nicht nur, weil es eine Frauenbewegung gab, weil Frauen berufstätig sind und selbstbewusster als noch im 20. Jahrhundert. Die Veränderung der Rollen hat ja auch mit der Veränderung der Lebensbedingungen zu tun hat. Die meisten Männer machen keine schwere körperliche Arbeit mehr, sind nicht Alleinernährer und werden, um im Jargon zu bleiben, auch emotional gefordert. Nicht nur von ihren Partnerinnen oder den Kindern. In der Arbeitswelt und vielleicht sogar an der Börse, in der Politik und irgendwann dann auch im Schlafzimmer wird zunehmend Feingefühl oder Empathie gefordert. Man braucht Fingerspitzengefühl, um eine Drohne zu steuern und mit der Playstation umzugehen, vielleicht schlägt sich das on the long auch auf andere Lebensbereiche nieder?
Weiter sind wir nicht gekommen, haben aber beschlossen, das Thema in der wiederbelebten Diesterweg-Hochschule öffentlich, heiter und neugierig zu diskutieren. Womit ich auf diese von Rolf Barth angeregte Initiative [diesterweghochschule.de] hinweisen möchte.