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Jahresendbericht 2024

Meine Antidepressiva 2024

Fangen alle Rückblicke auf dieses Jahr mit Stöhnen an? Über die Kriege (im Plural), Katastrophen, die man korrekterweise nicht als Naturkatastrophen bezeichnen kann, Wahlergebnisse, nicht nur hier und in den USA, auch in Österreich, dessen Staatsbürgerin ich bin? Zeitungslektüre und TV-Nachrichten waren vorwiegend grauslich, Freundschaften sind nach mehr und weniger erregten Gesprächen über Klimawandel, Putin, Palästina oder Rassismus zerbrochen, dazu Todesfälle und Krankheiten im nahen Umkreis. Und das hübsche kleine Grosz-Museum in Berlin musste schließen.

Als gelernte Trotzdemistin erinnere ich, dass sich Assange endlich frei bewegen kann, Femizide endlich ein öffentliches Thema sind, und am Jahresanfang überraschend viele Bewohner dieses Landes gegen Rechtsradikale auf die Straße gegangen sind. In der politikfreien Zone denke ich ans Schwimmen im Schlachtensee und anderswo, an eine Reise (per Zug) in das schöne Triest, an verrückte Konzerte im Freien. Wir haben den Corona-bedingten Autismus überwunden und Geselligkeit neu erlernt. Ausstellungen, Konzerte, gute Filme, deren Titel mir gerade nicht einfallen, der Besuch eines Theaters, das ich noch nicht gekannt hatte, waren Anlass für gute Gespräche, sobald besorgniserregende Entwicklungen zur Sprache kamen, waren wir immerhin gemeinsam ratlos.

Zum Glück gibt es Bücher, und mir fällt wieder der Satz ein, den vor langer, langer Zeit eine Schulfreundin zu mir sagte: “Du hast es gut, Du kannst Dich über Bücher freuen.” Zu den Entdeckungen dieses Jahres gehören die Erzählungen und Romane von Vladimir Vertlib (“Zwischenstationen”, “Schimons Schweigen”, “Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur”, “Heimreise”), und das zum Glück ziemlich dicke, schon 2022 auf deutsch (2019 auf spanisch) erschienene, “Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern”, in einer hervorragenden Übersetzung von Maria Meinel und Luis Ruby. Die Autorin ist Jahrgang 1979, auch das finde ich ermutigend, man spürt ihre Freude an wissenschaftlichen und literarischen Fundstücken von den Anfängen bis zur Gegenwart von Schrift und Material. Das Buch war nur geborgt, ich musste es zurück geben.

Zu den guten Seiten in deprimierenden Zeiten zählt, dass ich lesende Freunde, vor allem Freundinnen habe, und wir uns solche Fundstücke gegenseitig empfehlen und weiterreichen. Nicht erfreulich, aber horizonterweiternd war die Lektüre über Gefühle in der Politik (Hans-Jürgen Wirth, “Gefühle machen Politik”); In gewisser Weise tröstlich fand ich die Gegenrede von Miriam Meckel und Léa Steinacker in dem gut und verständlich geschriebenen Buch über die sogenannte Künstliche Intelligenz (Alles überall auf einmal). Die Beschäftigung mit diesem Thema hat auch belebende Seiten: Bewegungen zwischen analog und digital erweisen sich als interessante Herausforderung für Oldies, und ich habe einige Male so einen Hack+Make-Space besucht, in dem vorwiegend junge Leute neugierig zuhören, wenn Maria Gäste einlädt. Und dann habe ich mir, als Trost und Unterstützung für zeitweiligen Eskapismus Luis Borges Geschichten über imaginäre Wesen (“Einhorn, Sphinx und Salamander”) aus dem Regal geholt.

Erkenntnisse des Jahres: 1. Man kann, aber muss nicht wegschauen, Bücher über die Erfahrungen früherer Generationen sind eine oft erstaunlich hilfreiche Medizin. 2. Es wäre doch schade, wenn die Menschheit, oder auch nur die westliche Kultur ausstürbe. 3. Die Kultur kann auch durch die Kürzung von Subventionen verschwinden, darüber reden wir aber erst Ende nächsten Jahres.