Jahresendgedanken
Nachspeise
Pech, dass ich Tagebuch schreibe. Die Aufforderung zum Jahresrückblick hat mich dazu verführt, in diesem Heft zu blättern. Ein grauer Schleier scheint über dem Jahr zu liegen: Covid, Krieg und Katastrophen. Ende Februar begann das schriftliche Nachdenken über Bomben und Morde dort, Beschlüsse für und Aufrufe gegen Aufrüstung hier, als Versuch, schreibend zu verstehen. Plus Notizen über New-Speak: In Russland ist der Krieg eine “militärische Spezialoperation”, in den deutschen Nachrichten wird von Verteidigungs–, nicht von Rüstungsindustrie gesprochen. Angst bekam ich nicht nur wegen des Kriegs, ich fürchtete mich auch vor Gesprächen mit Freunden, weil “wir” uns nicht unbedingt einig sind – und rationales Diskutieren schwierig geworden ist. Meine Flucht zu Büchern erinnerte mich an Ängste, Politikverdrossenheit und innere Emigration in früheren Zeiten. Mit Freunden tauschte ich nicht nur Hinweise auf (vielleicht) kluge Artikel, sondern auch Tipps, wie man sich vor zu viel Informationen schützt.
Und es war doch ein ereignisreiches Jahr. Ich habe gelernt, dass ich hier in Berlin in einem Dorf lebe. Seit Corona meinen Radius einschränkt, gehe ich mehr spazieren, entlang der immer gleichen Wege, und treffe immer wieder die gleichen Leute, die auch weniger verreisen. Einige Male habe ich meinen Bezirk verlassen, und bin nach langer Pause wieder zu Demos gegangen – nicht gegen die Corona-Maßnahmen, sondern für diese tollen jungen Menschen, die von der Politik endlich Aktionen gegen die Abgase, Müll, Dreck, Gift und wetterbedingte Katastrophen fordern.
Die documenta füllt mehrere Zeilen in dem Tagebuch, ich diskutiere diese Fragen lieber mit mir selbst. Die vielen Sendungen, Artikel und Talk-Shows über Antisemitismus und Anti-Antisemitismus amüsieren mich, seit ich weiß, dass Frau von Storch Antisemitismus-Beauftragte der AfD ist.
Es gab auch vergnügliche Erlebnisse: Das neue, kleine, feine George-Grosz-Museum und die neue Neue Nationalgalerie haben mich beeindruckt, Konzerte und Kinobesuche waren wieder möglich. Gereist bin ich viel durch Bücher und weniger als in früheren Jahren über Land. Einmal habe ich eigens notiert, dass der Zug pünktlich ankam. In Wien entdeckte ich eine erstaunlich große Familie, angereist aus verschiedenen Ländern, weil wir Stolpersteine für unsere Verwandtschaft verlegt haben.
Im Nachhinein erinnere ich mich an viele Gespräche über die Dummheit – der Anderen.