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KI begreifen, Buchempfehlung

Wortwahrscheinlichkeitsvorhersagemaschinen

Der Begriff “KI” ist Ursache vieler Missverständnisse, man sollte die “Künstliche Intelligenz” anders nennen. Aber das steht erst auf Seite 317. Die Materie, um die es in diesem Buch geht, ist oft von eingeübten Denkgewohnheiten weit entfernt. Miriam Meckel und Léa Steinacker erklären nicht nur, sie drehen auch Fragen und Aussagen hin und her, wägen ab, differenzieren, und man merkt dem Buch an, dass ihnen diese schwierige Materie Freude macht. Die vielen Aspekte lassen sich hier nicht zusammenfassen, aber allen, die dieses Teufelszeug gerne meiden, sei gesagt – es liest sich wunderbar und eignet sich auch für Menschen, die analog denken! Es kommt ja nicht oft vor, dass ein Buch über einen schwierigen Gegenstand, der mit vielen Urteilen und Vorurteilen zu kämpfen hat, sowohl belehrend wie vergnüglich ist.

Die Autorinnen greifen weit aus – von der Geschichte der KI über das Funktionieren verschiedener Sprachmodelle, Modelle des maschinellen Lernens bei TikTok oder Spielen, aber auch die Finanzierung oder die Arbeitsbedingungen der Bienen und Drohnen des Gewerbes – wird das Pro und Con des Werkzeugs diskutiert. Sie schreiben über Gefahren und über Möglichkeiten, Hoffnungen und Ängste, die mit dieser Technologie verbunden sind – stets differenziert und differenzierend. “Noch ist alles möglich, wir stehen am Anfang einer langen Veränderungsreise. In jedem der 13 Kapitel werden unterschiedliche Positionen referiert und verglichen. (Der Epilog wird im Inhaltsverzeichnis nicht als 14. Kapitel aufgelistet sondern unter der Ziffer 42, eine Anspielung für Fans von Douglas Adams, es gibt einige solcher Späße.)

Anhand verschiedener Probleme (Automatisierung, Produktivität, Desinformation, Ethik u.a.) wird durchgespielt, wie eine Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine gestaltet werden kann und könnte. Am Schluss heißt es: “Wir hoffen, dass dieses Buch eine Inspiration und Unterstützung dabei sein kann, durchs Multiversum möglicher Zukünfte zu navigieren, den Sprung aus dem Universum des Heute ins Universum des Morgen zu wagen.”

Anwendungen mit erfreulichen Aussichten werden ebenso behandelt wie unerwünschte Nebenwirkungen, berechtigte Ängste und Gefahren. Die Autorinnen diskutieren, in welchen Bereichen der Einsatz von KI sinnvoll ist, wie Halluzinationen oder Fälschungen zustande kommen, was einzelne Klicks kosten, was die “Religion der reinen Marktwirtschaft” impliziert und welche Fallstricke beim Umgang mit Sprachmodellen auf dem Weg liegen. “Niemand sollte die Technologie nutzen, ohne ihre wesentlichen Funktionsweisen zu kennen”, zitieren sie einen US-amerikanischen Anwalt, dem ChatGPT ein paar nicht existierende Fallgeschichten geliefert hatte. Die Sprachmodelle, mit denen die Roboter trainiert werden,  verschlingen nicht nur “alles, was irgendwo im Internet zu finden ist”, sie verschlingen enorm viel Energie, verbrauchen  enorm viel Strom und Wasser für Kühlung, nutzen Mineralien samt Giftstoffen – der Krieg um Ressourcen gehören zur aktuellen Diskussion um Möglichkeiten und Hindernisse bei der Regulierung, die hier diskutiert werden.

Es gibt kein Patentrezept um zu entscheiden, wann der Einsatz von KI sinnvoll ist und wo nicht. Chancen und Nebenwirkungen werden humorvoll und plastisch erläutert, ob es um ein Sinken der Aufmerksamkeitsspanne auf das Niveau eines Goldfischs geht oder die Chance der Co-Kreativität von Mensch und Maschine: Moralisches Outsourcing steht neben beeindruckenden Ergebnissen auf vielen Gebieten, die Destruktion der Demokratie durch Deepfakes neben der Aussicht auf ökonomische und soziale Fairness. Der Grundtenor ist ein “sowohl als auch”, man findet herrliche Beispiele für den Unfug, der mit KI getrieben werden kann, und Gründe, weshalb Neugier, Flexibilität und Skepsis durch die Technologie gefördert werden, Nutzerinnen können lernen, ihre Kompetenzen einzuschätzen und ein externes Hirn kann bei der Bewältigung der Informationsflut helfen. “Jenseits von Untergangsszenarien und Techno-Utopien muss es stets darum gehen, den Menschen durch Künstliche Intelligenz zu unterstützen […] nicht aber sukzessive durch KI zu ersetzen”, lautet die Kernthese des Buchs. Es kommt auf uns an. Dieses wir” aus Nutzern, Produzenten und Politikern dürfte das größte Zukunftsproblem sein.

Ich habe übrigens keinen einzigen Druckfehler auf den 371 Seiten gefunden, vielleicht wurde dafür eine kluge KI genutzt? 

Miriam Meckel, Léa Steinacker: Alles überall auf einmal. Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können. Rowohlt, März 2024

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