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Verrat und Schuldgefühle

“Was bist du für ein guter Mensch, nicht wahr? Das sollten wohl die Leute sagen. Deshalb hast du das Buch geschrieben, damit alle wissen, wie gut und mitfühlend du bist, wie empört über all die schrecklichen Dinge, die der Menschheit zugestoßen sind, oder? Schaut mich an, staunt mich an, ich bin auf der Seite der Guten, ich verurteile, ich denunziere. Lest mich, liebt mich, gebt mir einen Preis für mein Mitleid, für meine Seelengüte.”

Diesen Passus fand ich in dem 2004 auf spanisch (2010 auf deutsch) erschienenen Buch von Juan Gabriel Vásquez. Es  ist ein Buch über Verrat und Denunziantentum, und vor allem ein Räsonnement über das Leben mit Schuld. Auch in Kolumbien gab es während des Zweiten Weltkriegs “Schwarze Listen”, auf denen alle landeten, die nur irgendwie verdächtig waren oder auch ohne Grund denunziert wurden. Kolumbien war für die USA strategisch wichtig. “Von 1940 an drangen die Vereinigten Staaten auf die kolumbianische Mitarbeit” erläutert  der Autor in seinem Nachwort. Zu dieser Mitarbeit gehörten die Beobachtung wirtschaftlicher und gewerblicher Aktivitäten von Personen und Unternehmen. Bekanntlich lebten in Lateinamerika sowohl Deutsche, die vor den Nazis geflüchtet waren, wie aktive Bewunderer Francos und Hitlers,und es gab in Kolumbien eine nationalsozialistische Partei.

Die Hauptfigur, Jurist und Professor für Rhetorik, hat mit obiger Suada seinen Sohn beschimpft, der ein Buch über eine eingewanderte deutsche Jüdin, eine enge Freundin des Vaters, geschrieben hat. Der Rhetorikprofessor hat das Buch in einer Zeitschrift verrissen und in seiner Vorlesung – in der der Sohn anwesend war – doziert: “Ich kann nicht verhindern, dass andere reden, wenn sie es für nützlich oder notwendig halten. Deshalb werde ich meine Stimme nicht gegen die Parasiten erheben, diese Kreaturen, die für ihre eigenen Zwecke die Erfahrungen von uns benutzen, die wir es vorgezogen haben, nicht zu reden.” Er wettert gegen “zweitklassige Schreiberlinge, die bei Kriegsende noch nicht einmal geboren waren”.

Im Zwiegespräch wirft er dem Sohn vor, dass er sich bequem mit einem Aufnahmegerät hinsetzt, schwachsinnige Fragen stellt, zweihundert Seiten fabriziert und meint, dass “wir uns dann vor lauter Wonne einen runterholen. Was bist du für ein guter Mensch, nicht wahr? Das sollten wohl die Leute sagen.”

Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass Gabriel Santoro einen guten Grund für sein Plädoyer gegen die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat. Er war einer der “Informanten”, hat gemacht, was damals viele gemacht haben: er hat den Vater seines Freundes, einen deutschen Einwanderer denunziert. Dieser Mann war weder Nazi noch Sympathisant Hitlers. Als er durch diese Denunziation auf die schwarze Liste kam, wurde sein Leben und das seiner Familie zerstört. Er verlor sein Geschäft, wurde interniert und beging dann Selbstmord. Der Denunziant aber hat sich neu erfunden, er wurde zu einem anerkannten, bewunderten Lehrer und hätte beinahe einen ehrenvollen Preis bekommen. Aber die Vergangenheit holte ihn ein.

Bogotá ist weit weg, die Reflexionen des Sohns, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, sind es nicht. Vor dreißig, auch noch vor zwanzig Jahren war es in Deutschland (West), in Italien, in Holland, in Frankreich und überall, wo es Mitläufer und Profiteure der Nazis gab, noch anstrengend, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. “Aufarbeitung” war mit Risiko behaftet. Stimmen gegen Antisemitismus, Rassismus und Denunziantentum waren noch nicht mehrheitsfähig.

Da ich das Buch 1. mit Verspätung und 2. in Deutschland 2023 lese, drängte sich nach der Lektüre die Frage auf, welches Geheimnis die vielen Kämpfer gegen Diskriminierung hier und heute zu verbergen haben. Welche identitätspolitischen Vorteile werden eingeheimst, wenn es überall, auch in der AfD, Antisemitismus-Beauftragte gibt, oder wenn empfindsame Gemüter dafür kämpfen, dass alte Bücher umgeschrieben oder aus dem Verkehr gezogen werden.

Juan Gabriel Vásquez, Die Informanten, aus dem  Spanischen von Susanne Lange, Frankfurt am Main 2010 (Original Madrid 2004)