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Ich habe mich mit Büchern zugedeckt. Das eine stand schon über zehn Jahre rum, hinter Glas, bei den wertvollen Büchern, noch eingeschweißt: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. „Der abenteuerliche Simplicissimus“. Gedruckt im Jahr 1669, in verständliches Deutsch übertragen, in der schicken Ausgabe der Anderen Bibliothek von 2009. Das lese ich jeweils abends im Bett, es ist eines der Bücher, die aktuelle Aufregungen relativieren. Ich lese von Zwist und Hader, Torheiten, Angeberei und Betrug; der Streit zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen, Soldatenleben samt Mord und Totschlag sind nicht lustig, aber erheiternd. Dass die Weiber das Leben meistern, war auch im 17. Jahrhundert bekannt, sie halten, so Grimmelshausen alias Simplicius, Mahlsteine, Spinnräder, Webstühle in Gang, backen das Brot, ziehen Kerzendochte, ohne die es damals kein Licht gab, sie sammelten Kräuter, mit denen sie Kranken heilten. Simplicissimus stellt auch fest, dass nach Pest und allerlei Heimsuchungen die Menschen nicht besser geworden sind, sondern schlimmer. Knapp 670 Seiten, damit kann ich mich noch ne Weile unterhalten.

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Am frühen Abend nehme ich ein anderes sehr dickes Buch zur Hand, das ich, lange vor Corona, weil über 900 Seiten, auf meinem e-reader gespeichert hatte: Olga Tokarczuks „Jakobsleiter“, 2014 auf polnisch, 2019 auf deutsch erschienen. Ungefähr auf Seite 400 entdecke ich, dass die beiden Bücher gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Auch hier geht es um verschiedene Glaubensrichtungen samt heftigem Religionsstreit, gibt es Erleuchtete und Spinner, spielen extreme Ungleichheit, Krankheiten und Tod, Weltuntergang und immer neue Hoffnungen bzw. gute Vorsätze eine zentrale Rolle. Beide Bücher sind mit unüberschaubar reichem Personal bestückt, in dem ich mich nicht zurechtfinde. Auch die „Jakobsleiter“ ist keine fortlaufende Erzählung, wie der Simplicissimus befinde ich mich ständig auf neuen Schauplätzen, nur kann ich im e-book nicht so gut zurückblättern. Coronasensibilisiert bleibe ich bei der Seuche hängen, „winzige Wesen, die Entzündungen hervorrufen“, Lunge und Herz angreifen und zum Tod führen, weshalb die Leute Abstand halten, Läden geschlossen, Menschen vermummt sind – und das im frühen 18. Jahrhundert. Ich wüsste gerne, warum und wie sich die Nobelpreisträgerin des vorigen Jahres so intensiv in die Geschichte der armen polnischen Juden hineingetigert hat, und werde der Sache nachgehen, wenn die Bibliotheken wieder geöffnet sind. 

Zu Anfang dieser braven neuen Weltordnung, als ich noch fürchtete, dass auch meine Buchhandlung schließen muss, holte ich mir von Niklas Maak „Technophoria“. Da war von Corona-Tracking noch lange nicht die Rede, aber der Held oder Antiheld in diesem Buch hat bereits so eine Uhr, die alles misst und weitergibt. Er lebt und arbeitet für und in einer Smart City, die Technik öffnet Türen, meldet Blutdruck, Herz- und sonstige Frequenzen und ortet seine Kontakte. Seine Gedanken sind bloß eine Verlängerung dessen, was es als Uhren oder Implantate für Sport, Gesundheit und Notfälle schon gibt. Erst nach drei Wochen, seit von der Max Planck-Gesellschaft bis Ranga Yogeshwar eine Corona-Tracking-App als Heilmittel gegen die Verseuchung empfohlen wird, auf KI, PEPP-PT und smarten Lösungen große Hoffnungen ruhen, merke ich, welch guten Griff ich getan hatte. Der Protagonist lebt smart, vernetzt und getrackt, ohne seine Smart Watch käme er nicht in sein Haus, den Lift und den Kühlschrank oder ins Parkhaus. Die wohlmeinende Überwachungsinstanz weiß, wann er sich wo aufhält und mit wem er Kontakt hat – sofern der Akku nicht leer ist. Das Buch ist auch jenseits von praktischen Anwendungen empfehlenswert, klug, witzig, sprachlich ein Vergnügen und klug ausbalanciert zwischen Kenntnis technischer Entwicklung und Ausspinnen kommender Konflikte.

Und dann kam der Frühling und die Sonne, und ich saß manchmal und immer öfter morgens auf meinem Balkon mit Hermann Fürst von Pückler-Muskaus „Andeutungen über Landschaftsgärtnerei“, denke-fühle-rieche mich auf Wiesen, kunstvoll angelegte Wälder samt Lichtungen und Wegen ins Offene.

Ich sinniere über diese Kunst, die so tut, als wäre sie Natur, und ahne, dass ich mich nach dieser Zeit der Sinn- und Aktionslosigkeit zurücksehnen werde, schon weil die Straßen autofrei und die Luft einigermaßen rein war. Jeden Tag dieser Corontäne freue ich mich, dass ich mich über Bücher freuen kann und habe mir angewöhnt, jeden Tag einen Apfel zu essen.