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Weltuntergang to go. Eine Fallstudie
ad: Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclams Universalbibliothek, Ditzingen 2018]
Das Verschwinden von Apfel- und Tomatensorten, Vögeln, Insekten und Sprachen ist bereits in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen. Hunderte Zahnpastasorten, TV-Programme, neu gezüchtete Haustiere und auch die sogenannte multikulturelle Gesellschaft sind kein Gegenargument. Das sei Scheinvielfalt, meint Thomas Bauer, der sich dem Verschwinden der Ambiguität zuwendet. Ihn beschäftigt nicht nur die Monotonisierung, sondern der Unwillen, Vielfalt zu ertragen. Als Ursachen für den Rückgang von Mannigfaltigkeit nennt er die Verstädterung, die größere Mobilität, die Globalisierung, die Belastungen durch Verkehr, die industrialisierte Landwirtschaft, den Klimawandel, die Monopole großer Lebensmittelkonzerne „wie generell die kapitalistische Wirtschaftsweise“.
Die Welt aber „ist voll von Ambiguität“. Das Wort, schreibt er eingangs, sei im Deutschen wenig gebräuchlich, aber unverzichtbar, wenn es um „Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit“ gehe. Imzuge seiner Beweisaufnahme kreiert er dann eine Vielfalt von Komposita, wie das nur in der deutschen Sprache gelingen kann: Die Ambiguitätstoleranz schwindet, er diagnostiziert eine Ambiguitätsflucht, dafür gibt es Ambiguitätsvermeidungsstrategien sowie Ambiguitätsfeindlichkeit mit der Folge einer Disambiguisierung. Ambiguitätsfreie Eindeutigkeit habe überhandgenommen. Da es Menschenschicksal sei, mit Ambiguität leben zu müssen, sei es vernünftig, „Ambiguität auf ein lebbares Maß zu reduzieren“, weshalb er eine Ambiguitätszähmung empfiehlt.
Thomas Bauer ist Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, ihm muss der Schrecken über die Pervertierung einer Kultur, der er sein Berufsleben gewidmet hat, in die Knochen gefahren sein. Wo es um die Politisierung der Religion, den Koran oder den politischen Islam geht, bin ich bereit, ihm zu folgen, das ist schließlich sein Gebiet. Er weiß wovon er redet, wenn er schreibt, dass „Fundamentalismen die Diskurshoheit“ erobert haben, weil sie Erlösung von der „unhintergehbaren Ambiguität der Welt“ versprechen.
Aber soll ich ambiguitätstolerant hinnehmen, dass ein habilitierter Fachmann für eineDisziplin auch über Geschichte und Architektur und Technik und Kunst urteilt? Ist das noch Einheit der Wissenschaft oder schon Vereindeutigung der Welt, die auch vor habilitierten Akademikern nicht Halt macht? Bauer wagt kühne Hüpfer mit seinen Beweisen aus der Evolutionsbiologie, Bemerkungen über polnische Identität oder die – sei es vom CIA oder von Daimler-Benz in Auftrag gegebene – bedeutungsarme Kunst. Seine Beispiele aus Psychologie („die Menschen sind tendenziell ambiguitätsintolerant“), Politik („US-Amerikaner sind um größere Eindeutigkeit bemüht“), Religion („die katholische Kirche ist überraschend ambiguitätstolerant“), Kunst (von Schönheit befreit und bedeutungsarm), Musik, Sport (FitnessTracker!) und nicht zuletzt die Entwicklung hin zu Maschinenmenschen (verkabelt mit starrem Blick auf den Bildschirm) verleiten zu der Frage, ob die Diagnose einer „weit vorangeschrittenen Verwahrlosung der Kommunikation“ auch für wissenschaftlich einherschreitende Weltuntergangsliteratur gilt.
Schuld am Verlust von Vielfalt ist, wer sonst, der Kapitalismus. Die Vermeidung von Zweideutigkeit und Zögerlichkeit ist „geradezu eine Voraussetzung für den Erfolg im Kapitalismus überhaupt“. Ein Psychiatrieprofessor ist Kronzeuge dafür, dass man in den USA ambivalente Situationen weit stärker fürchtet und zu vermeiden trachtet als in Deutschland. Den kurzen Rückblick in die deutsche Geschichte, in der man wusste, wer echter Deutscher und wer Halb-, Viertel- oder Achteljude war, lasse ich beiseite, aber die Jahre des Kalten Kriegs waren auch im angeblich ambigeren Europa nicht besonders geeignet, um zwischen den Blöcken zu stehen. Kunst ist schon nach Brot gegangen, bevor der Kapitalismus eine alles umfassende Krake war, die Sehnsucht nach Eindeutigkeit hat bereits die frühen Christen zu Gewalttätigkeiten und Märtyrertum inspiriert, sie haben, las ich gerade bei Catherine Nixey („Heiliger Zorn“), die verwirrende Vielfalt der zahlreichen römischen Götter abgeschafft. Sollen wir tatsächlich von der Vormoderne lernen, in der laut Bauer „eine sehr ambiguitätstolerante Mentalität herrschte“? Meint er damals, als der Sohn eines Schusters wie sein Großvater und Urgroßvater Schuster werden musste, die Nachkommen eines Ketzers bis in alle Ewigkeit verdammt waren, und Frauen, die von der Norm abwichen, als Hexen verbrannt wurden? Ich fürchte, da hat der Autor Zygmunt Baumann (den er zitiert) missverstanden, für den war die Moderne – im Unterschied zur feudalen Gesellschaft – unabdingbar mit Ambivalenz verbunden.
Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, dass ich die dramatische Situation verharmlose, aber in meiner Jugend sind noch rothaarige Kinder ausgegrenzt worden, und die Angst vor einem Atomkrieg war auch nicht ohne. Die Zitate von sogenannten „Identitären“, die für abgekapselte authentische Kulturen sind, erinnern mich an Graf Leinsdorf aus Robert Musils hundert Jahre altem „Mann ohne Eigenschaften“ – ein Buch voller Ironie, diesem Gefäß für Ambivalenz, Ambiguität, Vagheit und Zwischentöne, die, wenn ich die Weltuntergangsliteratur betrachte, in dem Genre kein Renommee hat. Ironiker nehmen bekanntlich nichts ernst. Und die Lage ist ernst, sehr ernst.
Bauers Klagen über das Gequatsche von Authentizität und Identität könnte ich problemlos ergänzen, vielleicht sogar toppen. Ich habe diese Vokabeln aus meinem Wortschatz gestrichen, auch das „Narrativ“, das für Katastrophenprosa unentbehrlich scheint. Wobei mich weniger interessiert, dass Herr Professor komplexe historische Prozesse schlampig zusammenfasst und der Text oberflächlich ist (und am besten dort, wo er schimpft), bemerkenswert ist die Diskrepanz zwischen dem Thema und dessen Behandlung. Da gibt es keine Ambiguität, auch keine Nische; wie es sich für Dystopien gehört fahren wir gradlinig in den Abgrund, es besteht kein Zweifel, gibt keine offenen Fragen und natürlich auch keinen Humor, diesen Hort für Ambiguität, der von Mehrdeutigkeit lebt und meist unter schwierigen Lebensverhältnissen als Kontraindikation gegen Eindeutigkeit besonders gut wächst und gedeiht.
Wie so viele dieser Geschichten voll tragischer, unabänderlicher Entwicklungen enthält der Band viel Wirklichkeits-, kaum Möglichkeitssinn, kein vielleicht/aber/außerdem oder unterirdisch wirkenden Hoffnungsstrahl. Das Büchlein ist bei Reclam in der Reihe „Was bedeutet das alles?“ erschienen, der Verlag ist für klassische, kanonverdächtige Literatur bekannt. Im Kanon der Weltuntergangsliteratur gibt es keine Trauer, sie ist frei von Träumen und kennt keine Sehnsucht, die den ausgeträumten Traum einer Aufklärung (von allem und von jedem) weiterspinnen möchte. Es gibt keine Hoffnung auf Wunder und keine Erkenntnis, außer dass alles schrecklich ist, keine Aussicht auf eine Pandemie, mit der die Überbevölkerung gebremst wird, einen Virus, der alte weiße Politiker schwächt, eine geniale technische Lösung oder einen geheimnisvollen Metallfrass, der Autos, auch solche mit elektrischem Antrieb, binnen Kurzem zerstören könnte.
Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ von 1964 kommt in dem Büchlein zwar nicht vor, aber ich denke an die damals heftig diskutierte Macht von Manipulation. Kommen die Befunde nur aus dem Wissen über Klimaerwärmung, über das Aussterben von Insekten, von Höflichkeit und Ambiguitätstoleranz? Oder hat sich ein lukratives Geraune verselbständigt und ist in höhere, akademische Sphären aufgestiegen? Ich weiß, es ist zwei vor zwölf, wir stehen am Abgrund, ohne Bienen werden die Blüten oder auch Früchte nicht bestäubt, die Fluchtbewegungen aus armen Länder werden zunehmen, weil der Meeresspiegel steigt und Süßwasser knapp wird, und die Reichen werden immer reicher und die Armen ärmer und die Fundamentalisten brutaler. Früher war alles besser, darum muss es ja auch irgendwann, noch früher, ein Paradies gegeben haben. Früher, als alles besser war, war Wissenschaft fürs Differenzieren zuständig.
Als kritische Intellektuelle alter Schule bin ich für alle Warnungen offen und stets auf der Seite der Protestierenden. Ich erinnere mich noch an die Berichte des Club of Rome von 1972, es ist evident, dass alles eindimensionaler wird. Auch der Kritik an „Siegerkunst“ und den „rechtwinkligen Investorenklötzen“ rund um die Hauptbahnhöfe von Berlin und Stuttgart stimme ich bedingungslos zu. Ich bin für die Einführung einer Kerosinsteuer, Beschränkung, meinetwegen auch Abschaffung von Kreuzfahrten, den Ausbau von ÖPNV und die Verwandlung von Parkhäusern in Wohnungen, wenn ich … ja was, die Macht oder wenigstens etwas zu sagen hätte? Ach ja, rund um die bayerischen Äcker gibt es noch immer keine Grünstreifen, in denen sich Getier und Blumen ausbreiten könnten. Im Unterschied zu Wissenschaftlern, die Lösungen anbieten, bin ich ratlos, zumindest was guten Rat anbelangt. Selbstverständlich schließe ich mich denen an, die gegen eine weitere Ausbeutung der Erde sind, fahre, wo es geht, mit der Bahn, trenne den Müll, spekuliere nicht mit Bitcoins, verwende keine Plastiktrinkhalme und freue mich über protestierende Jugendliche.
Der hier nur stellvertretend vorgestellte Text ist humorfrei, aber lustig daran ist, dass am Ende der vielen Argumente dann doch Kunst, Literatur und Musik als Hoffnungsträger bleiben, die der Vereindeutigung der Welt entgegenwirken sollen. Nicht die „Ich-hab-da-mal-ne-Idee-Kunst“, deren Beitrag zur Vereinheitlichung ein paar Seiten vorher gegeißelt wurde, sondern eine die „bedeutungsvoll“ ist und die Ambiguitätslust steigert.
Ich könnte auch andere, mit ebenso stolzem Gestus vorgetragene Abgesänge nennen. Die Schrift ist nur ein Anlass, um – als „Nothilfemaßnahme“ – den Wunsch zu äußern, auch alleswissende Wissenschaftler mögen etwas Ambiguität und Zweifel an der eigenen Kompetenz in ihre Diagnosen einbauen.