Wer ist Wikipedia
Unbezahlt und pseudonym. Der freie Zugang zum Weltwissen.
Wikipedia ist eine der letzten, allerdings auch eine sehr große Insel der verheißungsvollen Utopien, die mit dem Internet entstanden sind. Fangen wir mit der Geburt an. Wer sich nicht von den vielen Einträgen zu dem Stichwort in die Irre führen lässt, findet im Netz unter “wikiwiki”, dass der Begriff aus dem Hawaiianischen stammt und “schnell schnell” heißt. 1995, vor lächerlichen dreißig Jahren, wurde die Idee einer kollaborativen Technologie geboren. Wiki war der Traum von einer friedlich-freundlichen Zusammenarbeit, bei der jeder mitmachen, Websites abrufen und verändern könnte. Mehr dazu findet man unter Ward Cunningham – in 58 Sprachen.[1]
Aus WWW wie WikiWikiWeb wurde, unter der Feder- bzw. Tastenführung von Jimmy Donal Wales, die Wikipedia, deren Anfänge mit März 2000 angesetzt werden. Auf der Seite von Jim Wales fand ich das Zitat: “Imagine a world in which every single person on the planet is given free access to the sum of all human knowledge. That’s what we’re doing.”[2]
Was täten wir ohne? Wenn jemand, sagen wir, 25 Jahre alt ist (und in einem Land lebt, das Anschluss ans Netz hat), kann er oder sie sich wohl kaum mehr vorstellen, Haus- oder Seminararbeiten ohne dieses Lexikon zu schreiben. Man findet darin auch wunderschöne Grafiken, die die Länder mit Internetzugang anzeigen, inklusive Downloadgeschwindigkeit. Die heute (12.09.2024) abgerufene Darstellung dazu stammt aus dem Jahr 2021. Das wundert mich, denn zu den immer wieder erstaunlichen Erfahrungen gehört die Schnelligkeit, mit der Beiträge verfertigt, korrigiert oder auch gelöscht werden. Beim Runterscrollen entdecke ich, dass die erwähnte Statistik im Juni 2024 gesichert wurde, mein Urteil war voreilig. Womit ich beim Thema “zu schnell und husch-wusch” bin. Wenn ich unter einem Artikel sehe “zuletzt bearbeitet am” ist das meist nur ein paar Tage her.
Das führt zu der Frage, wie viele Tausende ständig am Rechner sitzen, schreiben, korrigieren, updaten, woher kommen all die Leute und was treibt sie um? Wie zuverlässig, fragt sich die an Lexika gewöhnte Userin, sind die Artikel, die sich so schnell abrufen lassen, wie entstehen die Einträge, wie wird das Wissen überprüft?
Es ist ein System aus mehreren Stufen und Kontrollmechanismen, dabei sorgt eine Vielzahl von Regulierungsmechanismen (oft, nicht immer) für Korrekturen. Für die deutsche Wikipedia schwirrt die Zahl von 17.000 Aktiven durch die Luft. Manche sind fleißige Autoren, Andere laden Fotos hoch, Einige korrigieren eher oder achten auf Neutralität, überprüfen Änderungen oder neue Einträge. Beteiligen heißt nicht, dass jeder Artikel schreibt. Manche “putzen” gerne, bessern Fehler aus, aktualisieren Beiträge, kümmern sich um Literaturhinweise, Anmerkungen oder den richtigen Platz für Punkt und Komma, damit die leider etwas komplizierten Regeln eingehalten werden. Nebenher wird gestritten, diskutiert und gelöscht – online und live.
Wie viele Männlein und Weiblein und sonstige Geschlechter mitmachen, ist schlecht erfassbar, weil man ein Pseudonym wählen kann, und viele tun das. Nur unter dem sind Beiträge, Korrekturen etc. auffindbar. Die Anonymität ist ein Schutz, sie kann natürlich auch missbraucht werden. Schwer errechnen lässt sich die Zahl der Aktiven auch, da manche oft, manche nur gelegentlich beitragen. Wie es sich für ein elektronisches Medium gehört, wird gezählt und kategorisiert, man kann das unter Wikipedia:Statistik[3], in der deutschen und in einer der übrigen 315 Sprachversionen nachlesen. Auf der Hauptseite der Wikipedia erfährt man, dass seit März 2001 (Stand September 2024) in deutscher Sprache 2.942.262 Artikel entstanden sind. Neueinsteiger finden dort auch Hinweise, welche Schwerpunkte es gibt, wie man mitmachen, Kontakt finden, Beiträge ändern oder spenden kann.
Alles ist freiwillig und es gibt Hunderte unterschiedliche Motive, warum jemand mitmacht. Man weiß etwas, das andere wissen sollten, bewegt sich in einem Kreis, der sich an dem Projekt beteiligt, fügt etwas ein, weil eine Suche erfolglos war. Viele glauben an das Wiki-Prinzip, wollen sich fürs Gemeinwohl engagieren und tragen deshalb zur “Weisheit der Vielen”[4] bei. Jüngere sind oft schon hineingewachsen oder hatten Peers, Lehrer, Erzieherinnen, Professorinnen, die sie eingeführt haben, Unruheständler bringen ihr brach liegendes Fachwissen ein und dabei besteht natürlich auch ein Generationenproblem. Älteren fällt der Umgang mit der Technik oft schwer, aber gerade sie haben meist viel Wissen gehortet, und wenn sie in Rente sind, haben sie Zeit und das Bedürfnis, ihre Kenntnisse weiterzugeben. Neben dem Interesse an Gemeinwohl, Ehrenamt und Spaß an der Schwarmintelligenz ist insofern der Austausch auf Augenhöhe ein Modell für generationenübergreifenden Wissenstransfer.
Es gibt natürlich auch viele Gründe, nicht mitzumachen. Das gilt z.B. für jene Intellektuellen, die viel wissen, und gewohnt sind, ihre Beiträge mit Namen zu zeichnen und auf ihre Publikationsliste zu setzen, und die deshalb gar nicht auf die Idee kommen, ohne Nennung ihres mehr und weniger prestigeträchtigen Namens Arbeit zu investieren. Wenn ich im Freundeskreis (Ü 60 ff.) herumfrage, so nutzen zwar alle dieses elektronische Lexikon, die meisten spenden auch dafür. Einige meckern und kommen nicht auf die Idee, auf den Button “Diskussion” zu klicken, wenn ihnen etwas nicht passt. Oft wissen sie auch nicht, dass man sich damit einmischen kann.
Wer neu einsteigen will, wird begrüßt und auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sie und er einen Mentor/eine Mentorin um Rat fragen können. Es gibt Sprechstunden und Infotage, Einführungskurse on- und auch offline. Außerdem gibt es diesen Wikipedia-Terminkalender, auf dem Begegnungen sowohl in der virtuellen wie in der realen Welt gelistet sind. Dazu gehören Stammtische, Schreibwerkstätten oder Führungen durch irgendwelche interessanten Orte wie Bibliotheken oder Museen. Solch physische Treffen gibt es an erstaunlich vielen Orten, man kann fragen, schaut, vernetzt sich und lässt sich helfen. In einigen Städten hat die community eigene Räume, auch Geräte, und wer in dem weltweiten Wiki erst einmal zu Hause ist, findet ein Handbuch[5], wie man so etwas initiieren kann und die – durch Spenden finanzierte – Wikipedia-Stiftung das fördert. Wenn ich Bekannten erzähle, dass viele dieser Aktivitäten nicht nur auf dem Bildschirm stattfinden, sondern sich Menschen physisch treffen, einander beraten und auch lachen, schauen sie mich an, als hätte ich von einer Reise im Luftballon berichtet.
Hier ein Ausschnitt aus meiner nicht repräsentativen Umfrage, in dem G. von seinem Zugang samt Schwierigkeiten berichtet:
Ich möchte zwei Personen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, zu denen es bisher bei wikipedia keinen bzw. nur einen sehr unvollkommenen Artikel gibt, mit eigenen Artikeln zur Geltung bringen.
Ich bin 77 und nur bedingt computer-affin. Von daher fällt es mir besonders schwer, mich im komplexen Wikipedia-System zurechtzufinden. Aber ich bin begeistert, wie sehr ich von Insidern unterstützt werde. Insofern weiß ich (noch) nicht, ob ich über die beiden Artikel hinaus dabeibleibe. …
[und] werde ich auf alle Fälle intensiver Nutzer bleiben. Ich bin erst im Juli dieses Jahres zu WikiBär[6] gekommen und habe mich bisher nur mit „meinen“ zwei Artikeln beschäftigt. Wenn ich 20 Jahre jünger wäre, würde ich bestimmt weitermachen.
Dass weniger Frauen mitspielen, ist bekannt, weniger bekannt ist das bereits zehn Jahre alte WomanEdit oder Femnetz[7], wo sich Frauen organisieren und man versiertere Kolleginnen fragen kann. Feministisch ambitionierte Frauen (oder auch Männer) werden schnell auf eines der Projekte stoßen, die sich um stärkere Beteiligung von Frauen und eine stärkere Sichtbarkeit von Frauen kümmern.[8] B. hat mir erzählt, dass sie sich schon vor Ende ihrer Berufstätigkeit nach einer ehrenamtlichen, möglichst sinnvollen Tätigkeit umgesehen hatte, als sie auf einen Info-Abend von Wikipedia stieß. Dort wurde sie von einer Frau aus dem FemNetz angesprochen und macht seither mit.
Mich hat eine Bekannte angeworben, da war ich schon ein paar Jahre eine muntere Rentnerin und bin ihr durch Interesse an der neuen Technologie aufgefallen. Manchmal, wenn ich Jüngere oder Geübtere um Hilfe bitte, verstehen sie meine Fragen nicht, weil für sie das Klicken so selbstverständlich ist wie für mich ein Blättern im Zettelkasten … war, denn den gibt es auch in meiner alten Bibliothek nicht mehr. Inzwischen ist es mir zur Gewohnheit geworden, dass ich, wenn ich in einem Buch oder Zeitungsartikel auf ein Thema oder eine Person stoße, die mich interessieren, nachschaue, ob und ggf. wie das im Lexikon vertreten ist. Fehlendes kommt auf die Liste der guten Vorsätze, und die Liste ist leider schon lang. Wenn ich einen Tippfehler finde, bessere ich den aus, manchmal füge ich einen Literaturhinweis ein, sehe eine Leerzeile, die nicht dahin gehört, ändere ungeschickte Formulierungen, neulich hat mich eine tendenziöse Ausdrucksweise dazu verleitet einzugreifen. Ein anderes Mal hatte ein ergänzender Literaturhinweis zur Folge, dass Wochen später ein Kommentar in meinem Postfach lag, und ich gefragt wurde, ob und warum dieser Eintrag wirklich wichtig sei. Auch ich kämpfe oft mit der Technik, mit Formatvorlagen oder den Relevanzkriterien. Für derlei gibt es Tutorials und Hilfeseiten, FAQs und Anleitungen, die oft Geduld und guten Willen erfordern. Ich weiß zwar, dass es für alles Hilfestellungen gibt, aber die sind oft langatmig oder nicht immer besonders präzise. Auch alte Hasen haben mir geflüstert, dass es manchmal schwer ist, sich gut auszukennen. Falls die Statistik recht hat, beteiligen sich inzwischen weniger Leute als noch vor zehn Jahren.
Bei einem Treffen habe ich erfahren, dass Wikipedia-Aktivität süchtig machen kann: Aficionados schalten dann als eine Art Morgengymnastik früh den Rechner ein, schauen auf ihre Beobachtungsliste, überprüfen zwischenzeitlich erfolgte Bearbeitungen oder bessern Fehler aus. Man darf Fehler machen, denn alles ist transparent, und transparent heißt auch, dass alle Änderungen dauerhaft sichtbar und damit nachvollziehbar bleiben. Wikipedia lässt sich nicht kaputt machen, weder durch versehentliche noch durch böswillige Löschungen.
Höhepunkt für fanatische Wikipedianer und –innen sind die jährlichen Veranstaltungen. Dazu gehört die globale Wikimania, die in verschiedenen Ländern, zuletzt in Singapur und Polen oder demnächst Afrika, stattfindet, und die WikiCon, die abwechselnd in den DACh-Ländern, d.h. Deutschland, Österreich oder der Schweiz abgehalten werden, mit Vorträgen, Seminaren, Diskussionen und Rahmenprogramm. Hier wird Zukunft, werden Neuerungen oder technische Probleme besprochen, quasi natürlich entstehen dabei alle möglichen Ideen für Kooperationen und Verbesserungen, auch Freundschaften.
Es ist ein buntes Völkchen aus Autoren, Fotografinnen, Studierenden, Profis und Laien, Physikern und Chemikerinnen, Lehrern und Technikerinnen oder Verwaltungsangestellten, die ehrenamtlich Zeit und Nerven investieren. Dazu kommen Mentorinnen, Betreuer für die Technik und von der Community gewählte Administratoren, die sich einschalten, wenn mal wieder ein Vandale oder Obermacho herumgepfuscht hat. Angaben die nicht belegt sind, dumme, überflüssige oder fragwürdige Beiträge können Löschanträge, Gegenanträge und heftige Diskussionen auslösen, und nicht immer geht es dann gemütlich zu. Zudem sind die deutschen Wikipedianer besonders streng, sodass es nicht erlaubt ist, einen englischen, französischen oder vielleicht auch persischen Artikel einfach per Automat übersetzen zu lassen. Man muss schon recherchieren und nach deutschsprachigen Quellen suchen. Der Umgangston ist manchmal herb und vielleicht würden mehr Leute mitmachen, wenn die Besserwisser etwas freundlicher wären.
Leider steht ja viel Quatsch im Netz, gelegentlich eben auch als Wikipedia-Eintrag, im Glücksfall fällt das den aufmerksamen Wächtern über die Relevanzkriterien oder Ethik schnell zum Opfer. Vor einem Überschuss an modischen Themen ist Wikipedia nicht gefeit. Neutralität ist wichtig und Eigenwerbung prinzipiell verboten. Diesen Beitrag schreibend bin ich allerdings auf mehrere Werbeagenturen gestoßen, die als Wikipedia-Experten auftreten, sie versprechen, “diskret” Artikel für Kunden anzufertigen oder bieten “komplette Marketing-Lösungen” an. Das widerspricht dem spirit und dem Neutralitätsgebot des Projekts. Getreue Wikipedianer haben dafür bereits eine Seite angelegt[9], auf der findet man jene Web-Agenturen, die mit “Bearbeitung von Wikipediaartikeln im Kundenauftrag” werben. Deren Einträge werden bei Bedarf gelöscht oder kommentiert. Aber lassen wir derlei Umnutzung, die nach den Gesetzen des freien Markts mit jeder guten Idee passiert. Wikipedia ist immer noch ein weiter Kosmos, letzter Rest einer Utopie, die mit dem Internet geboren wurde: transparent, nachvollziehbar, open source und erstaunlich kommunikativ.
[3]https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Statistik#Statistiken_f%C3%BCr_die_deutschsprachige_Wikipedia
[4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/schwarmintelligenz-100.html; https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Weisheit_der_Vielen
[6] Wikimedia-Räume in Berlin
[7] wikipedia.de/info/femnetz